Das große Toben und Proben in Hamburg – Der Staat testet den Ausnahmezustand

Dieser Text versucht, bei der Einordnung der Geschehnisse um den G20-Gipfel in Hamburg behilflich zu sein. Es ist viel passiert und es wird wahrscheinlich noch einiges herauskommen. Höchstwahrscheinlich wird irgendwann in einigen Jahren ein hohes Gericht befinden, dass mehrere Polizeieinsätze illegal waren, das wird keine Folgen haben und beim übernächsten Mal geht die Petition für scharfe Schusswaffen gegen Leute, die es wagen, Widerworte gegen DAS VOLK (weil „unsere“ Polizei) zu äußern, sofort durch. Weitere wichtige Erkenntnisse und Texte werden bei Gelegenheit noch hinzugefügt, bis dahin ist das eine Sammlung mit sehr vielen Quellen, in der Leute mit einem Mindestmaß an herrschaftskritischer Perspektive stöbern können. Und wer weiß, vielleicht glaubt eines Tages mal nicht mehr die erdrückende Mehrheit quasi alles, was Polizei und Staat so behaupten. Hallo Journalismus, das gilt auch für dich.

Vorab

Erinnert ihr euch noch an die Partypolizei? In grauer Vorzeit, vor zwei Wochen, wurde fleißig geschmunzelt, weil die Polizei mal die Sau rausließ im Container von Hamburg. Dass die Beamt_innen eben auch mal menschlich seien, ließ für kurze Zeit die Herzen höher schlagen. Es darf geschmunzelt werden, aber na, auch nicht zu locker mit den Zügeln! Tatsächlich ist es ja so, dass, auch wenn der Job nicht immer mit Menschlichkeit in Einklang zu bringen ist, auch der zugerichtete Schläger in Uniform immer noch ein Mensch ist. Und wieso sollten die nicht auch saufen, sich mit Gleichgesinnten prügeln und ficken dürfen? Geschenkt. Die Berliner Polizei:

„Bei unserer Bereitschaftspolizei arbeiten hauptsächlich junge Menschen, die im Einsatz große Verantwortung tragen. Diese jungen Kolleginnen und Kollegen arbeiten sehr professionell.“

Exakt die nach Berlin zurückgeschickten Leute machten dann ja dort bei der Räumung des Kiezladens Friedel54 wieder mit ihrer „Professionalität“ von sich reden. Der hier zuschlagende Beamte wird garantiert keine Konsequenzen fürchten müssen. Denn er trägt halt diese große Verantwortung, da darf nicht nachgefragt werden. Und wer sowas anzeigt, kriegt so gut wie immer Gegenanzeigen mit abstrusen, erfundenen Vorwürfen. Wir sind der polizeilichen Willkür ausgeliefert.

Interessant auch: Die Unterbringung kam einfach nicht aus den Schlagzeilen. Ungemütlich, ekelhafte Duschen, viel zu laut usw., lauteten die Vorwürfe nach nur einem Tag. Das mag auch durchaus sein. Aber als Geflüchtete, die in exakt solchen Unterkünften monate-, teilweise jahrelang leben müssen, sich beschwert haben, war das irgendwie nicht so recht Thema, schon gar nicht mit dieser Empathie. Das mit den Menschen, das scheint nicht für alle zu gelten. Erwähnt sei zusätzlich noch diese einsame Stimme eines Polizisten, der in seinem offenen Brief die Widersinnigkeit dieses riesigen Einsatzes anzweifelte.

Es beginnt

Also wieder zurück nach Hamburg. Dort begann der G20-Gipfel mit einem Putsch der Polizei. Einer polizeistaatlichen Selbstermächtigung in eher nicht so demokratisch-rechtsstaatlichem Stil. Das Oberverwaltungsgericht Hamburg hatte das Protestcamp am Entenwerder Park nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erlaubt, die Polizei interessierte sich nicht dafür, prügelte brutal rein und setzte sich über den Gerichtsentscheid einfach weg. Wenn die Exekutive über die Judikative walzt, wird in anderen Ländern vom Ende der Gewaltenteilung gesprochen.

Die Polizei verhielt sich aber nicht nur in Entenwerder so, das war über die ganze Stadt verteilt schon vor Gipfelbeginn der Modus. Auch in Altona wurden auf der Straße stehende Leute einfach mit Wasserwerfern und Schlagstöcken vertrieben. Explizit ohne Grund, ohne Straftaten, das gab die Polizei selbst zu. Aber hey, „Verantwortung und Professionalität“. Dabei war das ein einziges Aufwiegeln, ein gezieltes Eskalieren, eine rechtswidrige Handlung nach der anderen. Hier wurde offensichtlich mit Strategie kriminalisiert und vielleicht auch einfach mal geschaut, wie die Leute sonst so reagieren. Dann kann das nämlich die neue Normalität werden. Und wenn man sich anschaut, wie das Feedback momentan so aussieht, kann einem mulmig werden für die Zukunft. Patricia Hecht in der taz:

Würde ein G20-Gipfel in, sagen wir, Sankt Petersburg stattfinden, und würden noch vor Beginn des Gipfels Menschen, die beim abendlichen Bier zusammen stehen, mit Wasserwerfern auseinandergetrieben – hierzulande wäre die Hölle los.
Polizeistaat!, würden es heißen, Verletzung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit! Aber der Gipfel findet nicht in Sankt Petersburg statt, sondern in Hamburg. Und weil offenbar ganz klar ist, dass hier immer alles mit rechtsstaatlichen Mitteln zugeht, und weil die Polizei ja schließlich den reibungslosen Ablauf des Gipfels schützen muss – schwer genug in einer Großstadt – ist hier eben nicht die Hölle los.

Donnerstag – die Zerschlagung der „Welcome to hell“-Demo

Am Donnerstag stand am Fischmarkt die erste größere Demo an, die sich kämpferisch „Welcome to hell“ genannt hatte und von nun an mit W2H abgekürzt wird. Die Demo wurde überraschenderweise ohne Auflagen genehmigt, sie hätte also laufen können. Eine äußerst ausführlich recherchierte Zusammenfassung der Ereignisse findet sich hier in der Recherche unserer Kampagne „Nein zum Polizeistaat“, dieser Text ist aber sowieso schon lang genug, daher muss hier die kurze Version reichen: Die Polizei griff die Demo an, begründete das mit der Vermummung von angeblich tausend Leuten (die Zahl stimmt auch nicht), die größtenteils nach Durchsagen abgenommen wurde. Die Polizei war gewalttätig, schlug auf die Demo ein, von der keine Gewalt ausgegangen war – die sogar den Flaschenwurf eines von 12.000 Beteiligten sanktionierte und ihn aus der Demo ausschloss – und ziemlich sicher stand sowieso von Anfang an fest, dass diese Demo niemals laufen wird. Der Anwalt Udo Vetter sagt dazu:

Die Polizei hat am Donnerstagabend offenbar eine große, friedliche Demonstration mit der bloßen Begründung verhindert, dass einige Leute vermummt waren. Wenn das rechtens wäre, müsste man jeden Samstag in jedem deutschen Fußballstadion das Spiel absagen und das Stadion räumen. Und wenn die Polizei bei jeder Demo sagen würde, da laufen ein paar Vermummte mit, deshalb dürfen die restlichen 12.000 Leute auch nicht mehr demonstrieren – dann wäre die Konsequenz, dass es in Deutschland künftig keine Demos mehr gibt.

Wer es sich anschauen möchte, kann das u.a. hier tun:

Hamburg police attack Welcome to Hell march Part 1 from CrimethInc. Workers‘ Collective on Vimeo.

Wie das im Detail aussieht, sollte man sich schon anschauen, sofern man das noch nicht erlebt hat. Es ist ziemlich klar, wer hier Gewalt ausübt:

Auf anderen Bildern ist zu sehen, wie der Wasserwerfer auch auf Leute auf dem Dach schießt und damit mutwillig Tote in Kauf nimmt. Nachvollziehbarerweise spricht dieser Monitor-Bericht von Hamburg bei G20 als rechtsfreiem Raum, wo die Polizei unter der Leitung von Hartmut Dudde (SPD) ungestraft selbiges Recht brechen kann. Sie kommt damit einfach durch, weil das in Deutschland mit der Demokratie immer nur bei anderen genau genommen wird. Dudde ist noch unter dem berüchtigten Schill ins Amt gehievt worden und reiht sich in die lange Linie der SPD-Geschichte von Noske über dessen Fan Helmut Schmidt bis zu Sarrazin ein. Glückwunsch!

Andreas Blechschmidt von der Roten Flora war einer der Anmelder von W2H und spricht darüber, wie selbst die Polizei per Twitter zunächst verkündete, dass die Vermummungen abgenommen wurde, bis eine Berliner Hundertschaft sich doch nicht im Griff hatte/der Befehl gegeben wurde und die Demo schon angriff. Nichtsdestotrotz lügt ein Sprecher der Polizei am nächsten Morgen im Deutschlandfunk davon, dass 3500 vermummte Gewaltbereite in der Demo gewesen seien.

Bei der Pressekonferenz des Anwaltlichen Notdienstes (AND) am nächsten Tag wurde betont, dass nun die Polizei die Kontrolle über die Stadt übernommen hätte. Wer eine Ahnung von grundsätzlich geltenden Rechten und Pflichten des Staates hat, kann dem kaum ernsthaft widersprechen. Es gab de facto keine Gültigkeit von Grundrechten mehr. Die Versammlungsfreiheit, also das Recht, sich zu versammeln und seine Meinung zu äußern, gilt nicht mehr, wenn die Polizei nach Gutdünken machen und Demos auflösen kann, wie sie will und keine Konsequenzen zu fürchten hat.

Auch beim Kotzenden Einhorn gibt es eine Zusammenfassung mit vielen verschiedenen Quellen zum Donnerstag. Ebenfalls sollte dieses Gespräch gesehen werden:

 

Freitag – Die Einladung zur Eskalation wird angenommen

Der Freitag wird bestimmt durch den Versuch der Hafenblockade, ständig weiteres Geprügel der Polizei und das klassische Katz-und-Maus-Spiel bei solchen Events. Nur dass die Katze Helm, Quarzsandhandschuhe und Ritterrüstung trägt, schwer bewaffnet ist und die Maus beim Tragen eines Schals erschossen wird. Aber sie darf ein Mal am Tag dort furzen, wo vielleicht nachher die Katze hinkommt. Der Live-Blog der taz gibt einen ganz guten Überblick und liefert unter anderem solche Schmankerl der Verantwortung und Professionalität:

Polizist: Runter von der Fahrbahn!
Ich, die taz-Reporterin: Ich bin Journalistin, hier ist mein Presseausweis.
Polizist (brüllt): Was Presse? Wo ist ihre Kamera?
Ich: Ich arbeite bei einer Zeitung, ich habe keine Kamera
Er: Ihre Kollegen haben doch auch eine? Dann sind Sie ja wohl nicht Presse.
Ich: Äh, Printjournalismus?
Er: Personalausweis, aber zack, zack!
Ich: Das ist doch jetzt echt dämlich…
Er: Sie beleidigen mich? Wollen wir mal sehen wie lange sie noch ihren Presseausweis haben! (Kontrolliert meine Ausweise) So, sie haben die längste Zeit als Journalistin gearbeitet.
Ich: Das glaube ich nicht, ich mache hier nur meine Arbeit. Kann ich die jetzt bitte fortsetzen?
Er: Klappe jetzt! Was Frauen immer so viel labern müssen!

Wie man später an den insgesamt 32 Akkreditierungen sieht, die – DEMO! KRATISCHER! RECHTS! STAAT! – offenbar wegen geheimdienstlicher Wünsche angemeldeten Journalist_innen wieder entzogen wurden, war das nicht unbedingt eine leere Drohung und ein weiteres Puzzlestück im Polizeistaat Hamburg bei G20.

Zwischendurch immer mal sowas:

Alltag in einem Polizeistaat:


Kurz vor acht Uhr abends denkt ein Zivilpolizist, dass er einen Kollegen vor der Enttarnung bewahren muss und schießt auf der Schanze scharf, wenn auch nur einen Warnschuss. Das hat es meines Wissens auch seit 1945 noch nicht gegeben. Falls also irgendwer den Beweis gebraucht hat, dass bei solchen Ereignissen Polizei ohne Uniform unterwegs ist und mitmischt, sogar bewaffnet ist, sogar von der Waffe Gebrauch macht: Schaut mal.

Laut Spiegel-Recherche dachte der Mann im schwarzen Shirt, einem Kollegen helfen zu müssen, der gerade enttarnt worden sei. Der aber nur ein Typ war. Klingt alles im Moment relativ nachvollziehbar. Ach, wenn wir gleich dabei sind: 2007 wurde in Heiligendamm beim G7-Gipfel ein Agent Provocateur enttarnt, der anstachelte und u.a. „Rauf auf die Bullen“ geschrien hat (Video). Beim G8-Gipfel in Genua 2000 drapierte die Polizei ihre eigenen Molotow Cocktails in einer Schule, um damit den Überfall auf die Schlafstätte der Demonstrant_innen zu rechtfertigen, bei dem 62 Menschen ins Krankenhaus geprügelt wurden. Von etlichen anderen Lügen und dem getöteten Demonstranten Carlo Giuliani einmal abgesehen.

Am Abend dann also Riots. Ich nehme mal vorweg, dass das (ich spezifiziere: Die Zuspitzung und Sichtbarmachung des Antagonismus zwischen Kapital/Staat/System und Individuum/Masse der Ausgebeuteten/Prekariat aller Art durch Sachbeschädigung und Riots. Sachen sind etwas anderes als Menschen. Wenn ihr mir nicht glaubt, dann diskutiert das mit einer nahegelegenen Kiesgrube genauer aus) durchaus auch im Sinn von Teilen der Leute war, die dafür nach Hamburg gekommen sind. Näheres unter dem Abschnitt „Wie jetzt, wieso nochmal? – Ein paar Anmerkungen zu Zielen und Strategien von #NoG20“. Wenn man nicht unbedingt autoritär und vollverblödet ist, kann man demzufolge aber auch erkennen, dass die Mehrheit der Leute, die zum Demonstrieren gekommen waren, keine Riots im Sinn hatte und nur friedlich ihren Widerspruch zur schreienden Ungerechtigkeit unseres kapitalistischen Systems ausdrücken wollte, zum Wahnwitz der Anmaßung, dass hier 20 Chef_innen bestimmen sollen, was mit der Welt so passiert etc.. Und das ist eigentlich immer noch erlaubt, wenn auch in der Realität halt doch nicht so wirklich, wenn man sich den Freitag auch schon tagsüber anschaut. Dazu z.B. im Lower Class Magazine:

Bei der Flucht über ein Gewerbegelände kletterten diverse Demonstrant*innen über ein Gerüst, um den heranstürmenden Schlägertrupps zu entkommen. Diese drückten den Rest von unten gegen das Gerüst und dieses brach zusammen. Mindestens 15 Menschen brachen sich Arme, Beine und Sprunggelenke.

Mal ein paar Worte zu den brennenden Autos am Freitag, ein Thema, das viele Menschen in Deutschland sehr bewegt. Soweit ich weiß, waren es insgesamt 24, vor allem in Altona in der Elbchaussee. Ja, das ist scheiße. In der Situation ist das Unsinn, es ist wahrscheinlich willkürlich gewesen und sicher auch unfair, es schadet zudem und es hilft auch nicht. Aber: Wie kommt es denn, dass das im Gegensatz zu jeglicher Menschenansammlung urplötzlich nicht mit Vehemenz unterbunden wurde? Dutzende Leute können fast eine Stunde lang durch Altona marodieren und werden nicht gefasst? Das stinkt doch zum Himmel.
Meine gar nicht so steile These ist, dass es der Polizei ganz gut in den Kram gepasst hat, dass da auch was brennt. 21.000 Polizist_innen in der Stadt, in den Wochen davor wurde noch groß getönt, die Polizei sei an jedem Ort binnen drei Minuten nach Anruf zur Stelle und da wird dann mehr als ein Auge zugedrückt? Nee, ist klar. Auch dass an der Schanze später am Abend ganz plötzlich doch stundenlang nicht eingegriffen werden konnte, stimmt doch mindestens nachdenklich. Zum Glück wurden aber Barrikaden errichtet. Sonst würde es im Nachhinein vielleicht doch unangenehme Fragen geben, die nicht einfach so weggeprügelt werden können. Oder, etwas steilere These, aber bei diesem Staat ist einiges möglich (vgl. NSU): Es waren gar keine linken Demonstrant_innen. Halte ich für weniger wahrscheinlich als die erste Version.

Michael Prütz ist seit 30 Jahren in der Versicherungsbranche und schreibt zu Hamburg:

95% aller Autobesitzer sind teilkaskoversichert. Ist das Auto abgefackelt übernimmt die Teilkaskoversicherung die gesamten Kosten. Ebenso bei Glasbruch. Die Prämie steigt nicht. Natürlich haben Ladenbesitzer eine Geschäftsversicherung. Die zahlt bei Glasbruch. Hat ein „Randalierer“ den Laden betreten, gilt das als Einbruch und der wird umfänglich bezahlt. Ebenso versichert ist der Vandalismusschaden in vollem Umfang. Kann das Geschäft z.b. eine Woche nicht öffnen wird zusätzlich der Umsatzausfall bezahlt. Selbstverständlich steigt deswegen keine Prämie. Hat ein „Randalierer“ die Herausgabe eines Handys verlangt ist das Raub und wird über die Hausratversicherung bezahlt. Natürlich ist die Bürokratie nervend. Aber kein Mensch soll mir erzählen, das die Randale zur völligen Verarmung der Geschädigten führt.

Ebenso bemerkenswert finde ich, dass es nun einen Fonds für Betroffene geben soll, prinzipiell keine total schlimme Idee. Als aber Anfang 2016 in Leipzig-Connewitz hunderte Nazis einen ganzen Straßenzug demolierten, Läden zerstörten und Menschen angriffen, war von so etwas nichts zu hören, die nationale Kraftanstrengung, bei der „wir“ alle zusammenrücken, gibts in Deutschland halt viel lieber gegen Linke. Von BILD-Schlagzeilen à la „Keiner stoppt den rechten Hass“ war auch nach tausenden Angriffen bis hin zu dutzenden Mordanschlägen auf Unterkünfte für Geflüchtete, ausgehobenen Waffen- und Sprengstofflagern auch nie etwas zu hören. Davon handelt die Forschungsfrage #Deutschlandproblem, der wir uns bei FICKO seit 2015 widmen.
Immer wieder sowas:

Freitagnacht klang das via Twitter tatsächlich nach ziemlich übler Eskalation. Hubschrauber waren ja sowieso schon die ganze Zeit über zu hören, völlig durchdrehende Polizist_innen, die die Presse angreifen und wörtlich die Pressefreiheit abschaffen. Die haben das gesagt. Wörtlich. Wenn sogar der Chefreporter NRW der BILD davon berichtet, könnte man vielleicht die Verdrängung mal eindämmen.


Die haben Journalist_innen gezielt geschlagen. Die Zähne rausgeschlagen, direkt neben einem Redaktionskollegen. Journalist_innen ins Gesicht gepfeffert, während die Polizistin „Fuck you! Fuck you!“ schrie. Ich weiß aus Erfahrung, dass so etwas oft gar nicht geglaubt wird. „Fetishized disavowal“ heißt das bei meinen Meme-Friends von z.B. Slavoj Žižek. Fetischisierte Verleugnung auf Grund von zu viel Stress, das ganze Weltbild umwerfen zu müssen, wenn man zuließe, wirklich zu sehen, was vor aller Augen passiert.  Aber dafür gibt es ja Bilder. Einfach mal schauen und vielleicht doch ins Grübeln kommen.

Sieht das vertrauenserweckend aus oder nach einem dystopischen Actionfilm der 80er/Half-Life?

Anwohner, die aus dem Fenster schauen, mit dem Ziellaser der Schusswaffe anvisieren, das macht man so in einem demokratischen Rechtsstaat?

Dass Journalisten mit dem G36-Sturmgewehr bedroht werden, um sie davon abzuhalten, Polizei-Einsätze zu dokumentieren, wie es die Aufgabe der Presse ist, ist die Abschaffung der Pressefreiheit.

Die Hamburger Linie hat mal wieder versagt/Erfolg gehabt, je nachdem, was so die Prioritäten sind. Dass Einsätze von Dudde seit Jahren regelmäßig hinterher als illegal eingestuft werden, passt aber ins Bild. Entweder davon, dass es doch noch Gerichte gibt, die solch fixen Ideen unterliegen wie, dass sich auch eine Polizei an geltendes Recht zu halten habe. Oder dem von der Verkommenheit der parteipolitischen Klasse, wo die wiederkehrenden Rechtsbrüche nicht dazu führen, dass der Mann aus dem Amt entfernt wird. Aber was soll man in einem Land erwarten, in dem ein Rumpelstilzchen wie Rainer Wendt auch trotz aufgedeckt frecher Doppelbezüge, einem Interview beim auf keinen Fall glühend antisemitischen Compact Magazin und ständigen Lügen immer noch als seriöser Ansprechpartner gilt?

Zu den Plünderungen kann man erwähnen, dass dortige Geschäftsinhaber_innen selbst sagen, dass das vor allem unpolitische Eskalationsfans waren, die auch mal Randale machen wollten. Auch in diesem Spiegel-Artikel wurde recherchiert. Autonome schützten sogar kleine Läden, schritten mäßigend ein und hinderten Besoffene daran, noch mehr Scheiße zu bauen:

Zum Höhepunkt dieser Auseinandersetzung soll in der Nacht von Freitag und Samstag nun ein „Schwarzer Block“ in unserem Stadtteil gewütet haben.
Dies können wir aus eigener Beobachtung nicht bestätigen, die außerhalb der direkten Konfrontation mit der Polizei nun von der Presse beklagten Schäden sind nur zu einem kleinen Teil auf diese Menschen zurückzuführen. Der weit größere Teil waren erlebnishungrige Jugendliche sowie Voyeure und Partyvolk, denen wir eher auf dem Schlagermove, beim Fußballspiel oder Bushido-Konzert über den Weg laufen würden als auf einer linksradikalen Demo.
Es waren betrunkene junge Männer, die wir auf dem Baugerüst sahen, die mit Flaschen warfen – hierbei von einem geplanten „Hinterhalt“ und Bedrohung für Leib und Leben der Beamten zu sprechen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Überwiegend diese Leute waren es auch, die – nachdem die Scheiben eingeschlagen waren – in die Geschäfte einstiegen und beladen mit Diebesgut das Weite suchten. Die besoffen in einem Akt sportlicher Selbstüberschätzung mit nacktem Oberkörper aus 50 Metern Entfernung Flaschen auf Wasserwerfer warfen, die zwischen anderen Menschen herniedergingen, während Herumstehende mit Bier in der Hand sie anfeuerten und Handyvideos machten.
Es war eher die Mischung aus Wut auf die Polizei, Enthemmung durch Alkohol, der Frust über die eigene Existenz und die Gier nach Spektakel – durch alle anwesenden Personengruppen hindurch –, die sich hier Bahn brach. Das war kein linker Protest gegen den G20-Gipfel. Hier von linken AktivistInnen zu sprechen wäre verkürzt und falsch.
Wir haben neben all der Gewalt und Zerstörung gestern viele Situationen gesehen, in denen offenbar gut organisierte, schwarz gekleidete Vermummte teilweise gemeinsam mit Anwohnern eingeschritten sind, um andere davon abzuhalten, kleine, inhabergeführte Läden anzugehen. Die anderen Vermummten die Eisenstangen aus der Hand nahmen, die Nachbarn halfen, ihre Fahrräder in Sicherheit zu bringen und sinnlosen Flaschenbewurf entschieden unterbanden.

Dazu passt auch diese gemeinsame Erklärung von verschiedenen Ladenbesitzer_innen, die sagen, dass Autonome ihre Läden geschützt haben.

 

Der Samstag ist nur noch die Fortsetzung

Samstag diskutiere ich mit einem SPDler aus Mainz, der zunächst bei facebook „alle Seiten zur Mäßigung“ aufruft und ein paar Stunden später empört feststellt, dass irgendwie doch niemand so recht auf ihn hört. Wieso denn nur? Ich versuche ihm zu erklären, wie albern staatstragend er klingt, er wirft mir vor, mich mit Gewalttätern zu solidarisieren. Als ich ihn frage, ob er seine Behauptung mit einem Argument zu untermauern gedenkt, nennt er diese Gewalttäterin, über deren Angriff ich mich geäußert hatte:


Der arme Panzer, er ist immer noch ganz verängstigt von der brutalen Erstbesteigung. Man sieht in diesem Video (ab 4:30) übrigens, dass die Beamten sofort mit Pfefferspray angegriffen haben. Natürlich rechtswidrig, aber – das hatten wir schon – was kümmert die Polizei schon das Gesetz? Liane Bednarz wirft mich kurz danach aus ihrer Friendsliste, weil ich die Glaubwürdigkeit der polizeilichen Verlautbarungen anzweifle, solange sie sich selbst nicht an rechtsstaatliche Standards hält. Ich hätte sie noch fragen können, welchen Beschwerdeweg sie wohl empfehlen würde für Fälle wie diesen hier, wo die Polizei am Samstag einen Mann ausraubt und seine Gegenstände in den Gully wirft. Hier trennen sich also die Wege, oh nein! Egal, war eh Team Giesa.

Interessantes Detail, Konflikte bei der Polizei:

Zur Frage nach den verletzten Polizist_innen ein Beispiel der hessischen Polizei, das tief blicken lässt, was die Statistiken angeht. Von 150 Verletzten sind 130 in das eigene Tränengas gerannt. Wenn man so zählt, wie viele verletzte Demonstrant_innen würde man bekommen?

Eine große Sammlung von Grundrechtsverletzungen beim G20-Gipfel in Hamburg will das großartige Peng Collective erstellen, einiges ist auch schon vermerkt. Macht hier mit, wenn ihr betroffen seid! Und wer noch nicht genug Polizeigewalt gesehen hat und das alles immer noch nicht glaubt, kann ja mal stöbern.

Einige bisher unbeantwortete Fragen gibt es weiterhin an die Polizei bei Metronaut.de.

Eine Sammlung von Gesamtdarstellungen:
https://www.facebook.com/jana.weidemeier.58/posts/355608288188751
https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10213686294701241&set=a.1559751003300.75615.1521039993&type=3&theater
https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1549650911722047&set=a.157491854271300.30502.100000314603011&type=3&theater
https://www.facebook.com/saefken/posts/10207559418143321
https://oasegaengeviertel.wordpress.com/2017/07/09/offene-wunden/

Wie jetzt, wieso nochmal? – Ein paar Anmerkungen zu Zielen und Strategien von #NoG20

Es gab keine Einigkeit in den Zielen der Leute, die dem G20-Gipfel kritisch gegenüberstanden. Weder in den Zielen noch in den Wegen zu den verschiedenen Zielen. Das ist nicht total schrecklich, aber es muss betont werden. Symbolpolitik wird gern mal belächelt und es ist auch Quatsch, ernsthaft zu denken, dass sich etwas am Kapitalismus ändert, wenn der Hafen für eine halbe Stunde ruhen muss. Aber Symbolpolitik ist auch Politik, sie kann sehr wohl etwas bewirken und sei es nur ein Umdenken, was die eigene Position angeht. Nur eben sicher keine grundsätzliche Änderung des Systems. Die FAU Hamburg schrieb vor dem Gipfel in dieser Wortmeldung ziemlich kluge Sachen:

Der Anspruch besteht darin, den Kapitalismus durch eine Blockade des G20-Gipfels lahmzulegen beziehungsweise zu schwächen. Das wird selbstverständlich nicht passieren. Im besten Fall wird es – unter hohem persönlichem Risiko für die Aktivistinnen und Aktivisten sowie hohem finanziellen Aufwand für die aufrufenden Organisationen – zu einer Unterbrechung des Gipfels kommen, der dann an anderer Stelle fortgesetzt werden wird. Eine konkrete Verbesserung für uns Lohnabhängige wird dadurch nicht erkämpft. Das sollte aber der Maßstab sein, an dem sich eine Aktion messen muss. Kernstück der syndikalistischen Praxis ist die direkte Aktion. Dieses Konzept folgt nicht dem Anspruch, die Herrschenden um eine Verbesserung der Lebensumstände anzubetteln. Nichts anderes aber tun Gipfelproteste, egal wie militant sie ausfallen.

Ich glaube aber dennoch, dass zumindest einige Dinge erreicht wurden, so dumm das alles auch eskaliert ist. Die Vorstellung, dass der Nationalstaat im Kapitalismus die Grundrechte aller schützt, dass die Polizei „für uns“ da ist, kann nun bei halbwegs genauem Hinsehen nur durch enorme Verdrängungsleistung aufrechterhalten werden. Und genau diese betonharte Ideologie, in deren Vorstellung „wir“ alle in „einem“ Boot säßen, umrahmt von einer liberalen Demokratie, in der Grundrechte garantiert sind, die einen vor der Willkür des Staates schützen, diese hier mal ausnahmsweise äußerst deutlich als Lüge enttarnte Behauptung hält ziemlich viele Leute davon ab, mal wirklich grundsätzlich anders zu denken und sich viel weniger gefallen zu lassen. Einen Scheiß ist die Polizei für uns da. Sie macht, was sie will bzw. was die Herrschaft aufrechterhält (Gewalt) und kommt damit durch, weil die hochrangigen Parteipolitiker_innen der selbsternannten (yes, endlich!) Mitte sie schützen, sie loben, sie hätscheln und jede Kritik abwehren. Noch nach dem Gipfel wurden z.B. auf dem Rückweg nach Berlin Jugendliche schikaniert, beleidigt, geschlagen. Das Gelaber von „europäischen Werten“, von Menschenrechten, vom demokratischen Rechtsstaat, das ist alles in der Realität nicht mal mehr die Hälfte wert. Versucht mal, Polizeigewalt anzuzeigen: Nichts mit Rechtsstaat. Hier ein guter Überblick bei Correctiv:

Wenn Polizisten beleidigen, drohen und schlagen, werden sie so gut wie nie bestraft. Oft kommt es gar nicht erst zur Anzeige, und wenn doch, dann erhebt die Justiz nur selten Anklage. Gegen etwa 4500 Polizisten ermittelten die Behörden im Jahr 2013 wegen Straftaten im Amt. Weniger als jeder siebte Verdächtigte wird überhaupt angeklagt. Und fast alle kommen ohne Strafe davon. Genaue Zahlen gibt es nicht: Verurteilungen von Polizisten werden nicht erfasst.

Und diese Realität wird auch durch die in deren Sinne wohl als erfolgreich gewerteten Eskalationen von Polizei und Barrikaden sehr deutlich sichtbar. Hervorragend auf den Punkt bringt das der N24-Stream vom Freitag, bei dem sich die Gegensätze ziemlich klar gegenüberstanden, untermalt von Beethoven:

In diesem Sinne, mit diesen Zielen waren die Proteste gegen den G20-Gipfel sehr erfolgreich. Sie haben der Staatsmacht gezeigt, dass sie auch nicht mit noch so viel Gewalt nicht alles niederknüppeln kann, was an Widerspruch da ist. Das ist für Menschen auf der Couch im meist noch recht kuschligen Deutschland total befremdlich (wartet mal ab, was passiert, wenn unter Macron Frankreich beim Lohndumping mitmacht), aber z.B. im totgesparten und geplünderten Griechenland dürften sich ein paar mehr Leute finden, die die Wut auf die ungerechten Verhältnisse nachvollziehbar finden. Ach ups, die sind ja teilweise sogar in Hamburg gewesen. Die wissen, dass auch strukturelle Gewalt Gewalt ist. Von Menschen außerhalb Europas, die mit aller Gewalt daran gehindert werden, hierherzukommen, ganz zu schweigen.
Im Sinne der Mehrheit war es aber natürlich nicht, das muss manchen auch noch einmal gesagt werden. Die Frage, ob nun mit einer vernünftigen Polizeistrategie auf dem Boden des Grundgesetzes alles friedlich geblieben wäre, ist auch schwer zu beantworten. Gerade wenn man nur die autoritärdeutsche Version von Frieden als Definition heranzieht, in der kein Dissens und keine Abweichung erlaubt ist, wo Frieden Friedhofsruhe bedeutet, Streit als persönliche Beleidigung aufgefasst wird und alles, was stört, ausgemerzt werden soll. Ganz bestimmt hat jedoch dieses polizeistaatliche Auftreten nicht für mehr Sicherheit gesorgt, im Gegenteil, die Eskalation ging erwiesenermaßen von der Polizei aus. Es kann wirklich von Glück gesprochen werden, dass es keine Toten gab.
Eine Perspektive von „Achter Mai„, die eher nicht „XY ist bunt“-Demos organisieren:

3. Hamburg war eine bedeutende Station in dem bereits lange währenden Prozess der Militarisierung der Gesellschaft. Sei es die Unterstützungsleistung der Bundeswehr beim Polizeieinsatz, die ständige Präsenz von schwerem Gerät in Form von Wasserwerfern und Räumpanzern und natürlich der Einmarsch schwerstbewaffneter Sondereinheiten am Freitag und Samstag abend ins Schanzenviertel incl. Richten von Schusswaffen auf Protestierende, Journalist_innen und Anwohner_innen: es geht hier um die gezielte Legitimation militärischer Verkehrsformen im Inland. Dazu gehört auch die verbale Aufrüstung (!), etwa durch den inflationären Gebrauch von martialischen Termini wie „Bürgerkrieg“ oder die Bezeichnung der Polizist_innen als „Helden“ (Olaf Scholz).

Vielleicht war es ja auch so, dass nicht nur die mehr oder weniger Linken in die „Falle“ getappt sind, die der Polizeistaat stellte und nun ein gewaltiger Volksmob-Backlash heranrollt, sondern dass umgekehrt auch dieser Staat sich selbst keinen Gefallen tut, wenn er so offenkundig die Maske abnimmt und dermaßen dünnhäutig überreagiert. Er ist auch in die Falle getappt. Rüdiger Suchsland:

Es handelt sich um Fundamentalopposition, keine Frage. Es handelt sich um ein kompromissloses „Nein“ zu dem Common-Sense der Friede-Freude-Eierkuchen-Gesellschaft, der da lautet, konsumieren und Klappe halten, gewaltfrei und vernünftig sein. Es handelt sich um eine Alternative zu angeblich „alternativlosen“ Strukturen. Warum aber können sich unsere Machthaber mit dieser Fundamentalopposition nur auseinandersetzen, indem sie sie entweder pathologisieren („kranke Hirne“) oder kriminalisieren?
Warum erkennen sie nicht den Mut ihrer Gegner an, die Vitalität eines Protestes, der es immerhin nötig macht, Polizei-Nachschub aus dem Ausland nachzubestellen, der die Einsatzleitung zwingt, eine stundenlange Anomie auf den Straßen Hamburgs zuzulassen?
Der Seite des Staats und der Institutionen fehlt überraschend viel Selbstbewusstsein. Die Sprecher und Amtsträger bellen, aber hinter dem Gebell wird Angst sichtbar, das Begreifen, dass man hier eine Lage herbeirief, die man nicht mehr beherrschen konnte. Denn es war ein Chaos mit Ansage, das die Polizei mutwillig geschaffen hat.

Ein kleines bisschen einen Einblick in die Taktik „Schwarzer Block“ gibt es in diesem Interview mit Simon Teune:

Es ist eine bewusste politische Entscheidung, sich an dieser Aktionsform zu beteiligen. Bei Demonstrationen wird die Taktik des Schwarzen Blocks als Möglichkeit gesehen, symbolisch einen grundsätzlichen Widerspruch zu signalisieren und taktisch Vorteile gegenüber der Polizei zu bekommen. Ein Aktivist kann sich so auch klar von anderen Formen des Protests abgrenzen, zum Beispiel von der Demonstration am vergangenen Samstag, bei der die G20gebeten wurden, ihre Politik zu ändern. Protestierende im Schwarzen Block wollen klarmachen: Es gibt eine Konfrontation mit dem Staat, weil der Staat für Unrecht steht und dieses aufrechterhält – von globalen Handelsbeziehungen bis zur Flüchtlingspolitik.

Früher oder später kommt auch ohne Krawalle bei politischen Grundsatzdiskussionen die Frage nach der Gewalt. Als Vorwurf, als grundsätzliche Frage, als Spekulation, wie es anders sein könnte. Bei der Ordnungsliebe der Deutschen, die im Zweifel Ungerechtigkeit schon vor über 200 Jahren meist besser fanden als Unordnung, wird Gewalt in völliger Ausblendung der jetzt schon realen, alltäglichen, furchtbaren Gewalt nach außen verbannt. Wir machen sowas nicht, DIE aber schon und die sind krank und ganz anders als WIR. Die Extremismustheorie ist dafür ein wunderbares Beispiel. Der schlecht sitzende, krude zusammengeflickte Anzug unter den Mänteln des Schweigens über die Gewalt des Staates. Schönes Bild, sollte ich öfter nutzen!


Es gab seit 1990 in Deutschland nicht einen Mord durch Linke, aber mindestens 178 durch Neonazis Getötete in Deutschland. Auch in Hamburg sprechen die Verletztenzahlen eine eindeutige Sprache, der „Extremismus“ ging hier von der Polizei aus. Die mittepopulistische bis rechtspopulistische Gleichsetzung von Altmaier ist so bekloppt, man mag kaum ernsthaft darauf antworten. Es ist möglich, dass er nicht so dumm ist, das selbst zu glauben. Macht aber nichts, es macht mit bei der völkischen Mobilmachung, die hier gerade läuft. Ein Widerspruch gegen diese hingeschluderte Logik kommt z.B. von Matthias Quent:

Die Gleichsetzung von rechts und links läuft häufig darauf hinaus, die beiden politischen Richtungen als gleichsam undemokratisch, gefährlich und irregeleitet im politischen Diskurs zu isolieren und so zu tun, als wären die Argumente und Ziele in gleicher Weise falsch. Dass die rassistische Ideologie der extremen Rechten jenseits des demokratischen Konsensraumes liegt, ist offensichtlich und weitgehend anerkannt. Das trifft auf linke und auch auf radikale linke Kritik nicht zu, weil sie eine lange demokratische und intellektuelle Tradition auch in der Sozialdemokratie und in sozialen Bewegungen hat – denken Sie an die Arbeiter-, Frauen- oder auch Umweltbewegung. Es wird also versucht, Bewegungen und Akteure links der politischen „Mitte“ mit denen rechts der politischen „Mitte“ gleichzusetzen, die nichts miteinander gemeinsam haben müssen, außer dass sie nicht zur Mitte gezählt werden, um somit völlig unterschiedliche politische Konzepte undifferenziert zu stigmatisieren, als ideelle und politische Konkurrenten auszugrenzen und als Feindbild zu konstruieren.

Dass es zehntausende Menschen in Hamburg gab, die völlig friedlich demonstriert haben, die ihrem Widerspruch gegen die herrschenden Verhältnisse nur Ausdruck verleihen wollten und dafür in etlichen Fällen auch von der Polizei verprügelt wurden, ist den Leuten egal, die fordern, dass die Polizei nun scharf schießen solle.  Wir hatten bei FICKO zum ersten Mal seit der Diskussion um das rassistische Logo der Firma Neger in Mainz solche Leute in den Kommentaren bei facebook:

Angesichts dieses Nazi-Vokabulars und etlichen weiteren Hassausbrüchen in tausenden Kommentaren darf man die Konsequenz, mit der hier Gewalt kritisiert wird, also durchaus bezweifeln. Wenn man sich, wie oben erwähnt, auch einmal anschaut, wie relativ wenig Empörung es im mitte-extremistischen Bürgertum bei tausenden Neonazi-Angriffen über jetzt schon mehrere Jahre hinweg gab, kann man schon auf den Gedanken kommen, dass Sonja Thomaser hier Recht hat:

Geplünderte Geschäfte und brennende Autos sind also genauso schlimm wie Mord an Menschen mit Migrationshintergrund und Laster, die in Menschenmengen rasen. Für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU und der Opfer von Nizza, Paris, Brüssel und Berlin ist das ein Schlag ins Gesicht. Altmaiers Tweet wird von der halben CDU fleißig geteilt und gefeiert. Endlich sagt es wieder jemand, Linksextremismus ist genauso schlimm wie Rechtsextremismus.

Es ist schon Bundestagswahlkampf, aber auch sonst sind das ja nicht immer alle die hellsten Birnen im Leuchter und da kann man sich gar nicht genug übertrumpfen mit autoritären, antidemokratischen Forderungen.
Sehr lustig war hingegen gestern dieser drei Monate alte Artikel in der WELT, der zeigt, wie sicher sich die Herrschaftszeiten im Sattel wähnen. Ein raunendes und sexistisches Loblied auf die Demonstrantin. Wie sich ihre Muskeln spannen, wie sie sich romantisch vermummt, wie sie zum Äußersten bereit ist und Steine wirft: Ganz famos. Geht auch alles klar mit dem Steinewerfen, weil ist ja in Venezuela gegen eine (autoritäre und auch sonst nicht so sympathische) linke Regierung.

Bleibt noch zu erwähnen, dass auch Neonazis anwesend waren und nach einem Outing eine Hetzkampagne gegen den Journalisten Sören Kohlhuber lostraten. Die z.B. auch dazu führte, dass sich der von der ZEIT herausgebrachte Gemeinschaftsblog distanzierte. Ganz schön rückgratlos. Die Neonazis, u.a. wohl von Hogesa, griffen später in der Nacht auch in der Hafenstraße an, wurden aber abgewehrt.

Eine gute Antwort auf diese hirnerweichend dummen „Hinweise“ auf die Widersprüche im Kapitalismus, wegen dessen Omnipräsenz nicht außerhalb desselben etwas gegen ihn tun zu können:

 

Grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Individuum und Staat

Gibt es für die Abschaffung der Versammlungsfreiheit und der Pressefreiheit irgendwelche Konsequenzen, wie sich das für eine Demokratie gehört? Bisher halt nicht, niemand muss zurücktreten, während der Mob schon die Schließung der Roten Flora fordert – völlig egal, dass deren Sprecher sich von der Eskalation distanziert hat. Thomas „Afghanistan ist sicher“ de Maizière will in Leipzig linke Zentren schließen. Deutschland ist schon ein Polizeistaat. Das Grundrechtekomitee schreibt dazu:

Wir haben beobachtet, in welchem Maße die Polizei in diesen Tagen die Macht über das Geschehen in der Stadt übernommen hat. Sie hat eskaliert, Bürger- und Menschenrechte ignoriert, sie informierte die Öffentlichkeit falsch und ging mit großer Gewalt gegen die Menschen vor. Schon seit Monaten warnen wir vor dem Ausnahmezustand, der anlässlich des G20 in Hamburg produziert wird. Das, was wir in dieser Woche vorgefunden haben, geht sogar über das, was wir befürchtet haben, noch hinaus. Nicht nur wurden die Grund- und Menschenrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch die Allgemeinverfügung außer Kraft gesetzt. Die Polizei hat, gedeckt von der Hamburgischen Regierung und vermutlich auch im Sinne der Interessen der/des Innminister/-senators und der Sicherheitsbehörden den Ausnahmezustand geprobt.

Sehr richtige Beobachtungen über die furchterregenden Dynamiken der von oben legitimierten Entfesselung des Volksmobs von Danijel Majic:

Der Weg in den Autoritarismus beginnt nicht – wie ich heute schon lesen durfte – mit Krawallen. Er beginnt mit Aufrufen an Bürger, sich vorbehaltlos mit der Staatsmacht insbesondere den Sicherheitsbehörden zu identifizieren. Er beginnt damit, dass nicht mehr von “der”, sondern von “unserer” Polizei die Rede ist. Er beginnt damit, dass Journalisten andere Journalisten dafür kritisieren, wenn Sie der Staatsmachts insbesondere den Sicherheitsbehörden nicht 100-prozentig Vertrauen und es wagen, kritische Nachfragen zu stellen oder gar offene Kritik zu üben.

Er beginnt da, wo der Begriff des Terrorismus instrumentalisiert und gedankenlos erweitert wird. Er beginnt da, wo Politiker und Publizisten den Faschismusbegriff so einsetzen, wie es ihnen gerade ins Kalkül passt. Er beginnt da, wo Zentren subkulturellen Widerstands geschlossen werden sollen. Er beginnt da, wo der Öffentlichkeit es nicht mehr auffällt, dass Politiker in einem Satz von Rechtsstaat reden und im darauffolgenden die Aufhebung grundlegendster Prinzipien eben dieses Rechtsstaats fordern. Kurz: Er beginnt nicht randalierenden Autonomen im Schanzenviertel.

Dazu passt der Paradigmenwechsel, den man ideengeschichtlich mit G20 in Hamburg verbinden kann. Tadzio Müller über den Wechsel vom Grundrecht, das alle haben, zum Gnadenrecht, das der Polizeistaat nach Belieben verleiht oder auch nicht:

In einem Polizeistaat wird eine rechtlich zustehende anwaltliche Beratung nicht zu den Mandant_innen durchgelassen. Aber nicht nur das, der Rechtsbeistand wird körperlich angegriffen: 

Einer unserer Anwälte des Anwaltlichen Notdienstes (AND) wurde heute, Samstag, 8. Juli 2017, gegen 01.30 Uhr, von mehreren Polizeibeamten gepackt, ihm wurde ins Gesicht gegriffen, der Arm verdreht und dann aus der GESA geschleift. Zuvor befand er sich in einem Beratungsgespräch mit einem Mandanten, der sich nach dem Gespräch komplett entkleiden sollte. Leibesvisitationen werden aktuell vermehrt an den Gefangenen, sowohl vor als auch nach dem Kontakt zu AnwältInnen, vorgenommen. Die Polizei begründet diese Maßnahme damit, dass die AnwältInnen ihren MandantInnen gefährliche Gegenstände übergeben könnten.

Ein bisschen Auflockerung zwischendurch:

THE LAST RIDE | Rocco and his brothers from Toto und Harry on Vimeo.

Und nach all diesen kilometerlangen Ausführungen soll es nun diesen sicher radikalen, aber eben auch sehr logischen Text zu lesen geben. Über den Sinn und Zweck der Polizei, die Geschichte ihrer Gründung und was sie jetzt so tut. Das hilft tatsächlich, einiges zu erklären und man muss sich nicht mehr so sehr ärgern, wenn man weniger erwartet:

Polizei ist eine Einrichtung der modernen kapitalistischen Gesellschaft zum Schutz ihres rechtlichen Kerns: des Privateigentums an den Produktionsmitteln, darüber hinaus zur Aufrechterhaltung der gesamten Eigentumsordnung und zur Kontrolle des öffentlichen Raums. In gewisser Weise stellt die Polizei diesen Raum und diese Ordnung selbst her, nötigenfalls mit Gewalt. Zu diesem Zweck ist die Polizei mit dem Gewaltmonopol im öffentlichen Raum ausgestattet – das heißt, diese Stelle, wenn immer alle “Ey!” schreien, das ist der Moment, in dem die Polizei ihre Kernbefugnis zur Geltung bringt: wenn sie das macht, was sie darf und alle anderen eben nicht. Aufgrund ihrer Rolle übernimmt die Polizei auch andere soziale Funktionen, die ihre Machtposition ausbauen, ihr Informationen verschaffen und sie noch selbstverständlicher erscheinen lassen.

In seinem Text zum Ursprung der Polizei (“Origins of the police”) geht David Whitehouse zunächst auf dieses Mißverständnis ein. Die Polizei ist nicht dazu da und nicht dafür nötig, Verbrechen aufzuklären“Der häufigste Weg, ein Verbrechen aufzuklären, bestand vor wie seit der Erfindung der Polizei darin, daß jemand sagt, wer es begangen hat.” Die Aufklärungsquote durch Anzeige bzw. Verpfeifen ist denn auch kaum irgendwo so hoch wie in Deutschland. “Die Polizei wurde vielmehr dazu eingerichtet, großen, widerspenstigen Mengen zu begegnen. Das waren zunächst Streiks in England, Unruhen in den US-Nordstaaten und Sklavenaufstände in den Südstaaten. Die Polizei ist eine Antwort auf Menschenmengen, nicht auf Verbrechen.”

“Es gibt das Gesetz … und es gibt das, was die Cops machen”, so Whitehouse weiter. “Das Gesetz beinhaltet wesentlich mehr Vorschriften, als tatsächlich zur Anwendung kommen, was bedeutet, daß ihre Durchsetzung immer selektiv ist. Das wiederum heißt, daß die Polizei sich immer aussucht, welchen Teil der Bevölkerung sie ins Visier nimmt und entscheidet, welchen Teil ihres Verhaltens sie beeinflussen will. Es heißt auch, daß Cops ständig Gelegenheit zu Korruption haben.”

 

Fazit

Pressefreiheit: Gilt nicht immer. Z.B. dann nicht, wenn die Polizei keine Zeug_innen will. Damit ist sie keine Freiheit mehr, sondern abgeschafft.

Versammlungsfreiheit: Gilt nicht immer. Z.B. dann nicht, wenn die Polizei keinen Bock hat. Damit ist sie keine Freiheit mehr, sondern abgeschafft.

Bewegungsfreiheit: Nö. Ohne Gefahr für Leib und Leben darfst du nicht entscheiden, wo du hingehst. Reisen geht auch nicht, wenn du schwarze Klamotten trägst.

Rechtsstaat: Auf dem Papier ja. In der Realität setzt sich die Polizei über Gerichtsurteile weg, verprügelt Anwälte und greift die Presse an. Und es gibt keine unabhängige Beschwerdestelle wie z.B. in zivilisierten Staaten.

Deutschland ist ein Polizeistaat. Der Mob tobt, der Rechtsruck lodert. Wer weiß, was das noch wird.

 

Ich sehe aber gar nicht ein, das so einfach hinzunehmen. Ich glaube, dass es gerade unter denen, die glauben, dass Deutschland ein Rechtsstaat sei, eine große Menge an Verbündeten gibt, die auch gern eine wirklich faire, gutmenschliche Welt hätten. Mit denen müssen wir Gutmenschen alle arbeiten. Nicht nur, aber eben auch. Nicht nur in der Szene bleiben, über die Gräben hinweg kommunizieren, also alle adressieren, die eine gerechtere Welt im Sinn haben. Nicht dem Fehlschluss anheimfallen, dass eine Verteidigung der Idee „Gesetze sollten für alle gelten“ schon irgendwie nicht radikal genug ist, weil es einen Staat voraussetzt. Die einzige Revolution, die momentan ansteht, ist die für einen noch viel autoritäreren Staat. Um dem etwas entgegenzusetzen, muss man auch mal zum Chor predigen. Denn wenn der Chor nicht mal mehr singt, wird es hier ratzfatz noch viel düsterer, dann war G20 in Hamburg nur ein Vorgeschmack auf das, was wir bald überall erleben werden. Wir haben bei FICKO ganz gute Erfahrungen damit gemacht, mit Leuten zu sprechen, die (noch) ganz woanders stehen. Das geht. Mit einer zugänglichen Sprache und einer Praxis, die nicht vor allem aus Gängelung, Beschämung und Herablassung gegenüber jenen besteht, die prinzipiell gewillt sind, etwas Konstruktives beizutragen.

Kapitalismus heißt immerwährende Konkurrenz, der Krieg aller gegen alle wird heraufbeschworen, um ihn dann, wenn er kommt, zum Naturzustand zu erklären. Dabei geht es durchaus anders. Um mich in aller Bescheidenheit mal selbst zu zitieren: So wie es ist, wird es sowieso nicht bleiben. Stellt euch mal vor, es könnte besser sein. Und das bleibt bei all der Scheiße, die gerade heraufzieht, eine wichtige Erkenntnis.

5 Comments

  • Antworten Juli 12, 2017

    Gustav Gold

    hallo.
    aus gesicherter (!) quelle weiß ich,
    dass teile der eingesetzten hundertschaften seit beginn der gipfel-woche in ihren unterkünften „unter strom“ gesetzt wurden.
    das bedeutet zb:
    nachts ertönen immer wieder schrille töne, licht wird stroboskop-artig an/aus geschaltet.
    ziel soll sein, die polizisten auf die aggressive stimmung vorzubereiten und sie selber „aggressiv genug“ zu machen.

    • Antworten Juli 13, 2017

      form

      Sowas habe ich tatsächlich auch schon mal gehört. Gibt es da irgendwie bessere Quellen, irgendetwas Verifzierbares?

      • Antworten Juli 13, 2017

        Gustav Gold

        leider nein.
        aber vielleicht bestätigt das ein exPolizist, der nichts mehr zu verlieren hat.
        gibt ja welche, die sich mittlerweile für die „gute sache“ einsetzen.
        problematisch ist dieser psycho-terror ja in erster linie für die beamten selbst.
        so etwas zu unterbinden, wäre eigentlich mal eine sinnvolle aufgabe für die polizei-gewerkschaften..

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