Interview mit Franziska Schutzbach – Schweizer Aufschrei, männliche Befindlichkeiten

Franziska Schutzbach tauchte auf dem FICKO-Radar zuerst 2014 wegen ihres sehr guten Texts zur Gutmenschlichkeit (sie hat es anders genannt) auf. Sie forscht und lehrt an der Uni Basel zu Geschlechterthemen, ist feministische Aktivistin, Mutter, Mitherausgeberin der Geschichte der Gegenwart und ein Gutmensch im besten Sinne. Im Sommer hat sie den Schweizer Aufschrei initiiert, über den wir uns ganz kurz per Mail unterhalten wollten. Es ist dann doch etwas ausgeartet.

Bei der Thematisierung von Sexismus ist oft vor allem die Abwehrhaltung von Männern eine der größten Hürden. Sie können sich nicht einmal überwinden, anzuerkennen, dass es ein ernsthaftes Problem gibt. Weil ja quasi nur Frauen darüber reden und die muss man sowieso nicht ernstnehmen. War das beim Schweizer Aufschrei auch so?

Ja, es kamen Argumente wie, wir würden die Probleme der Männer vergessen und sie pauschal zu Tätern machen. Oder wir würden lügen. Aber nicht nur, es gab auch viel Solidarität von Männern, Bereitschaft zu kritischer Selbstreflexion. Es sind auch neue Verbindungen entstanden. Und ja, auch Männer sind von sexualisierter Gewalt betroffen, keine Frage, aber das ändert noch nichts daran, dass auch die Gewalt an Männern meistens von anderen Männern ausgeht. Täter sind zu einem hohen Prozentsatz Männer. Männer müssen akzeptieren, dass das strukturell ist, und dass sie daran arbeiten müssen. Männliche Gewalt ist ein Problem, das man nicht anderen in die Schuhe schieben kann. Sie hat unter anderem mit bestimmten Männlichkeitsidealen zu tun. Oft wenden Männer Gewalt an, wenn sie diese Ideale nicht erreichen, sie versuchen, ihre real erlebte Schwäche mit Gewalt auszugleichen.

Sexualisierte Gewalt ist aber auch eine Form der Machtausübung, bei der es gezielt um Herabsetzung und Demütigung von Frauen (manchmal anderen Männern) geht, und nicht um Sex. Männer sind dafür verantwortlich, sich zu fragen, was hier eigentlich abgeht. Klar geht es auch um die Frauen und ihre Rolle. Und auch darum, dass Männer sich als Opfer (einer bestimmten Männlichkeit) begreifen. Aber erstmal geht es um eine klare Übernahme von Verantwortung, ohne Wenn und Aber, darum, dass Männer selbstkritisch fragen: Was ist da los bei uns? Warum wird Männlichkeit und männliches Selbstbewusstsein oftmals über die Herabsetzung von anderen hergestellt?

Erleben Männer denn Sexismus?

Sicher erfahren Männer Sexismus, werden teilweise auf ihr Geschlecht reduziert, erleben Benachteiligung. Aber dass ihnen daraus als Gruppe ein gesellschaftlicher und struktureller Nachteil entsteht (zum bsp. ökonomisch, beruflich), stimmt nicht. Es ist einfach nicht so, dass dadurch ein gesamtgesellschaftliches Ungleichgewicht zuungunsten der Männer entsteht.

Weiter ist es so, dass Benachteiligung von Männern oft aus dem vorherrschenden Männlichkeits-Ideals resultiert (sterben in Kriegen, werden krank und gehen nicht zum Arzt). Was ich sagen will: es ist nicht die Schuld der Frauen oder Feministinnen, dass Männer Schlachten führen. Oder sich als Manager zu Tode arbeiten. Oder zu schnell Auto fahren. Männer müssten sich nicht aus weiblicher Unterdrückung befreien, ihr Befreiungskampf ist ein anderer, vor allem von eigenen Identitätskonzepten der Stärke und Überlegenheit.. Und das macht es vermutlich für Männer komplexer, sie können keine Unterdrückung beklagen durch eine weibliche Herrschaft. Weil sie sind es ja selbst, die mehrheitlich an den so genannten Schaltstellen der Macht agieren (die These von der angeblichen Feminisierung der Gesellschaft ist ein Mythos). Sie müssen also ein Stück weit an ihrem eigenen Ast sägen. Ein schwieriges Unterfangen. Weil sie ja auch immer wieder viele Credits bekommen in diesen Positionen.

Die Wehrpflicht in der Schweiz für Männer kann man zum Beispiel durchaus als Sexismus sehen. Gleichwohl sind damit ja auch Karrieren und gesellschaftliches Prestige möglich. Es erwachsen einem keine schwerwiegenden Nachteile, im Militär gewesen zu sein, während man das eben als Frau ökonomische und andere Nachteile erfährt, wenn man 10 Jahre lang auf die Kinder aufgepasst hat.

Warum fällt es Männern schwer, darüber zu reflektieren?

Es fällt Männern viel schwerer, sich als partikular zu begreifen, kulturgeschichtlich hat der Mann kein Geschlecht. Die Rolle der Partikularität haben Frauen, sie sind der Körper, das Geschlecht, der Mann steht für Geist, für Vernunft, Objektivität und Neutralität. Der Mann steht für das Allgemeine, die Frau für das Partikulare, das Andere. Deshalb waren ja Frauen auch bei der Deklaration der Menschenrechte nicht mit gemeint. Mit Mensch war der Mann gemeint. Der Mann als Mensch hat kein Geschlecht, das ist, was viele Männer bis heute empfinden, sie erleben sich als geschlechtlos, ihre Position als unmarkiert. Nur die anderen sind markiert. Und sie erleben es als Degradierung, wenn sie über ihre Geschlechtlichkeit nachdenken sollen, über ihre eigene Partikularität. Über die eigene Geschlechtlichkeit nachzudenken bedeutet, zu realisieren, dass unsere Wahrnehmung von der Welt eben gerade nicht neutral oder allgemein ist. Als Mann oder männlich sozialisierte Person entwickelt man spezifische Perspektiven auf die Welt, das einzugestehen, fällt nicht leicht, wenn man sich gewöhnt ist, die eigene Sicht für neutral und allgemein zu halten.

Ich halte es aber für einen entscheidenden Schritt, die Begrenztheit, Partikularität und auch Gewordenheit der eigenen Perspektive zu reflektieren. Ich glaube, man kann sich nur auf andere wirklich einlassen, andere verstehen, wenn man die eigene Sicht nicht für universell hält. Wenn man also den Radius öffnet, indem man die eigene Begrenztheit erkennt. Weil zum Beispiel Männer selten sexualisierte Belästigung erleben, denken sie, es wäre kein Thema. Und halten diese Sicht für universell. Sie sehen nicht, dass die andere Hälfte der Menschheit andere Erfahrungen hat. Beziehungsweise sie halten diese Erfahrungen von anderen für ein Partikularproblem, mit dem sie sich nicht identifizieren und folglich nicht befassen müssen (da sie es ja nicht erleben). Ähnliches gilt für das Thema Gebären, unterbezahlte Care-work, Sexarbeit und vieles mehr. Diese Themen werden von Männern gern „verandert“. „Ach, das sind diese „Frauenthemen“; höre ich oft.

Aber das sind nicht einfach Frauenthemen, sondern sie haben etwas mit dem Ganzen, mit der Gesellschaft als Ganzes zu tun, mit Ökonomie, mit Herrschaftsverhältnissen usw. und betreffen alle. Das kann man aber nur verstehen, wenn man sich klar macht, dass die eigene Lebenswelt nur ein Ausschnitt ist von dem, was Menschen erleben. Wenn man den eigenen begrenzten Blick eingesteht. Aus einer solchen selbstreflexiven Perspektive ließe sich auch erkennen, dass nicht nur Sexismus, sondern auch Rassismus, Homophobie usw. nicht einfach das Problem dieser betroffenen ‚anderen’ sind, sondern die Gesellschaft als Ganzes betreffen.

Gibt es noch andere Hürden, die Männer von feministischen Perspektiven abhalten?

Ja, weil Männer denken, es sei Sache der Frauen, über Sexismus nachzudenken, forschen oder schreiben oder äußern sie sich nur selten zum Thema Geschlecht. Das bedeutet, dass Männer sich bei der Reflexion über Geschlechterverhältnisse auf bereits vorhandene gesellschaftliche Analysen von Frauen, gar Feministinnen berufen müssen. Sie müssen also zuhören, rezipieren, was Frauen dazu seit langem zu sagen haben, und das ist nicht leicht, weil im männlichen Selbstverständnis mann sich alles selbst ausgedacht, selbst erfunden, von selbst aus drauf gekommen sein sollte. Das Eingeständnis, dass die Kritik am Patriarchat, an Sexismus bereits auf der Vorarbeit von unzähligen Frauen beruht, fällt schwer. Mein Eindruck ist, dass es Männern oft auch deshalb schwer fällt, zu Sexismus zu sprechen, weil sie dann auch sagen oder eingestehen müssen: ich beziehe mich hier auf Analysen, die ich mir von Frauen angeeignete habe, ich selber bin nicht drauf gekommen. Das kratzt am Ego. Es kratzt am männlichen Ego, sich in weibliche Genealogien zu stellen.

Eine Beobachtung von mir ist dazu zum Beispiel, dass weiße Männer sich eher noch im Feld des Antirassismus engagieren, hier bereit sind, eigene Anteile selbstkritisch zu reflektieren. Das hat, meine These, damit zu tun, dass Rassismuskritik auch eine Genealogie hat, die von nicht-weißen Männern formuliert wurde. Und das macht es für weiße Männer leichter, denn sie beziehen sich problemloser auf nicht-weiße Männer als auf Frauen. Das ist nun zugegeben spekulativ, eine Alltagsbeobachtung und nicht wissenschaftlich fundiert. Aber ich habe wirklich das Gefühl, für Männer ist es ein unbewusstes No Go, sich von Frauen was sagen zu lassen. Männer können sich ja untereinander teilweise hart anfeinden, streiten. Das Spiel der Konkurrenz wertet das Gegenüber in ihren Augen auf, wenn Männer von Männern kritisiert werden, fühlen sie sich wichtig und ernst genommen. Kritik von Frauen hat nicht diesen Effekt. Weil Frauen einfach nicht dieselbe Subjektposition haben. Sie sind nicht auf Augenhöhe.

Solche ‚Details’ sind es also unter anderem, die das phallokratische System reproduzieren. In der Soziologie gibt es einen Begriff für dieses Phänomen: Homosozialität. Es wurde beobachtet, dass Männer sich vor allem auf andere Männer beziehen, sie wollen bzw. müssen cool, interessant und erfolgreich sein vor allem vor anderen Männern. Dieser homosoziale Druck führt dazu, dass auch ‚schwache’ Männer ihm folgen (und auch viele Frauen! Frauen wollen ebenfalls vor allem von Männern anerkannt werden). Das homosoziale System bedarf keiner real starken Männer, es funktioniert auch als Imaginäres.

Deshalb fühlen Männer sich von feministischer Kritik oft auf den Schlips getreten: Sie fühlen sich doch gar nicht mächtig! Sie wurden grad von der Frau verlassen, haben Geld verloren, sie sind gestresst oder depressiv. Und da kommen diese Feministinnen und behaupten, es gäbe ein Machtsystem, in dem Frauen diskriminiert sind. Wo sich doch die realen Männer oft ebenfalls schwach fühlen.

Aber auch real schwache Männer stützen das Patriarchat, weil sie sich am Phallischen als gesellschaftlicher Maßstab orientieren. Die Flexibilisierung der Geschlechterverhältnisse hat zwar Veränderungen möglich gemacht, Frauen treten selbstbewusst in der Öffentlichkeit auf, aber das Phallische ist immer noch der Maßstab, und zwar für alle, auch für Frauen oder andere Nicht-Männer. Wie Elfriede Jelinek mal sagte: „Ich bin ja nicht Feministin, weil ich Männer bekämpfe, die Frauen verprügeln und vergewaltigen. Dass man dagegen ist, ist ja klar. Ich bin Feministin, weil dieses erdrückende phallische, phallokratische Wertesystem, dem die Frau unterliegt, über alles gebreitet ist. Die Unterwerfung unter das taxierende männliche Urteil ist für mich eine ewige narzisstische Kränkung“.

Die Gleichheit de jure schwächt nicht die Herrschaft de facto: der Mann ist das soziale Maß der Welt, selbst wenn er zugibt, dass Frauen ihm in einer abstrakten und juristischen Perspektive gleich seien. Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt beschreibt in ihrem Roman „Die gleißende Welt beschrieben“, wie eine Künstlerin ihre Kunst unter männlichen Pseudonymen publiziert, und erst dann erfolgreich wird. Hustvedt schreibt: „Die Leute hören erst zu, wenn sie einen Schwanz dahinter wissen“. Ich selber kenne das ja, als Frau, Urteile, Kritiken, Einschätzungen usw. ernster zu nehmen, wenn sie von einem Mann kommen.

Was machst Du dagegen?

Ich versuche bewusst, die inneren Maßstäbe zu verschieben. Wie das die italienischen Diotima-Philosophinnen in ihrer Praxis des „Affidamento“ vorgeschlagen haben: Man kann sich innerlich zum Beispiel sagen: ich schreibe diesen Text, der soll Anerkennung nicht vom Star-Journalisten oder vom Professor xy bekommen, sondern ich will, dass die Frau oder Transfrau xy das gut findet. Ich versuche also, die inneren Autoritäten zu verschieben und meine Arbeit, meine Denken, mein Handeln an anderen Maßstäben als dem männlichen Mainstream auszurichten.

Was entgegnest du auf den Vorwurf, Feminismus sei männerfeindlich?

Sexismus-Kritik richtet sich gegen das phallokratische System, nicht gegen Männer. Ich mache oft den Vergleich mit Rassismus, auch wenn man mit solchen Vergleichen vorsichtig sein muss, aber einige Mechanismen sind ähnlich: Weiße beziehen einen Teil ihrer Macht und Selbstbewusstseins aus einem System, das von rassistischen, hierarchischen Strukturen durchzogen ist. Gleichwohl sind nicht alle Weißen intendierte Rassisten, aber es muss uns als Weiße klar sein, dass wir grundsätzlich von einem System profitieren, das uns bevorteilt. Rassismus ist nicht erst dann ein Problem, wenn ein Schwarzer Mensch direkt attackiert wird, das ist ein viel zu reduzierter Blick auf das Problem. Und es ermöglicht, sich selbst als nicht-beteiligt zu imaginieren. Ähnlich läuft es beim Sexismus. Wenn Männer als erstes rufen: Aber doch nicht alle Männer! Dann haben sie das Problem nicht verstanden.

Feministische Kritik „persönlich“ zu nehmen, als „männerfeindlich“ zu bezeichnen, zeigt eine Weigerung, strukturelle Machtungleichheit zu sehen und eigene Anteile zu reflektieren. Ich meine damit nicht, dass eine persönliche Täterschaft ausgegraben werden und im Sinne eines Schuldbekenntnisses zu Kreuz getragen werden muss. Wir müssen nicht in Selbsthilfegruppen gehen, sondern verstehen, dass mit der Kritik an Männlichkeit oder an ‚Whiteness’ nicht die Personen gemeint sind, sondern deren Positionalität. Es geht um die Position in einer Struktur, die einem als Mann oder als Weiße oder ‚Oberschicht’ ja auch gesellschaftlich zugeschrieben wird. Dafür können wir als Individuen nichts, ich habe nicht gewählt, als Weiße geboren zu werden. Aber ich muss doch verstehen, dass es eine Struktur gibt, die mich als Weiße in eine bestimmte, oftmals hierarchische Position gegenüber anderen bringt. Und dass, selbst wenn ich selber nicht (bewusst) rassistisch handle, ich als Weiße qua dieser Positionalität eine Verantwortung habe, damit diese Machthierarchien nicht immer weiter reproduziert werden.

Gleichwohl ist manchmal eine gewisse Wut gegen Männer natürlich vorhanden, gerade wenn es um Gewalt geht. Diese Gewalterfahrung von Frauen durch Männer, die Jahrtausende lange Herabsetzung und Degradierung zu Menschen zweiter Klasse (wie das ja auch andere erfahren haben und erfahren, Nicht-weiße Menschen zum Beispiel) sitzt tief und geht tief. Aber Feminismus fordert nicht, Männer zu benachteiligen, sie werden vielleicht kritisiert, manchmal wütend und vorwurfsvoll, aber es geht in keiner Weise darum, eine Welt zu schaffen, in denen Männer nicht gleich sind, also quasi die Verhältnisse umgedreht werden, wie dem Feminismus manchmal unterstellt wird. Es geht nicht darum, eine „Femokratie“ zu errichten, in der Männer unterdrück werden. Jedenfalls kenne ich keine feministische Strömung, die das fordert. Feminismus, wie ich ihn verstehe und lebe, möchte eine Gesellschaft der Vielfalt und der sozialen Gerechtigkeit, da sind ‚Hausfrauen’ möglich und schwule Machos, aber eben auch lesbische Präsidentinnen of color. Oder Hausmänner. Es geht darum, wirklich eine Wahl zu haben.

Dass Männer, manchmal pauschalisierend, kritisiert werden, ist so, das muss man aushalten. Denn wie gesagt ist es so, dass auch Männer, die nicht vergewaltigen oder Frauen herabsetzen, mit grosser Wahrscheinlichkeit schon vom sexistischen System profitiert haben, es – ungewollt – stützen. Selbst die schwächsten Männer, zum Beispiel Obdachlose, sind oft besser dran als obdachlose Frauen (im Einzelnen kann es anders sein, aber statistisch gesehen). Oder Männer of Color erfahren zwar rassistische Diskriminierung, profitieren aber innerhalb der eigenen Communities oder Gruppe oft von sexistischen Strukturen. Ähnlich ist es beim Arbeiter, der ausgebeutet wird. Aber immer noch besser verdient als seine Frau oder Schwester. Auch schwule Männer erfahren zwar Benachteiligung, können aber ihre Anliegen oft dennoch besser durchsetzen als lesbische Frauen.

Frauen haben also allen Grund, wütend zu sein?

Ich bin der Meinung, Frauen haben eine Art Wut-Bonus. Ich meine hier nicht im Sinne von Wutbürgertum, beim Wutbürgertum geht es ja stark darum, als völkisch einheitliche Gruppe in Erscheinung zu treten (wir, das Volk, haben genug!). Es gibt aber gerade nicht die „Wut-Frauen“, weil es eben keine einheitliche Kategorie Frau gibt, sondern sehr unterschiedliche Erfahrungen und Probleme. Gleichwohl gibt es auch Schnittstellen, und an diesen können sich gemeinsame Artikulationen, Bewegungen bilden (zum Beispiel beim Aufschrei), ohne dass ‚wir’ deshalb gleich sein müssen. Wut kann eine visionäre Kraft haben, wie Audre Lorde es beschrieben hat. Die persönlichen Verletzungen können politisiert und in die Gesellschaft getragen werden. Das heisst aber auch, dass Frauen untereinander Verletzungen, Konflikte und Differenzen austragen, und eben klar sein muss, dass wir feministische Wut intersektional denken müssen.

Frauen werden nicht nur verletzt, sondern verletzen auch. Sie können in einer Situation Opfer und in einer anderen Täterin sein. Sowieso müssen wir – mit Christina Thürmer-Rohr gesprochen – den Opferbegriff differenzieren. Frauen sind zum Beispiel in einer ganz bestimmten Gewaltsituation Opfer, das bedeutet aber nicht, dass sie insgesamt oder immer Opfer sind. Frauen haben auch Handlungsmacht und sie gestalten ihr Leben und die Geschichte mit, sie nur als Opfer zu sehen, halte ich für kurzsichtig, ja unfeministisch. Frauen sind nicht einfach kollektiv Leidtragende, zudem haben sie auch kollaboriert, hier wurde der Begriff der ‚Mittäterschaft’ wichtig (zum Beispiel im Nationalsozialismus). Patriarchale Logik stützt sich auf diese Mittäterschaft, wie Thürmer-Rohr schreibt:

Wir sind zu Mittäterinnen geworden, wenn wir … komplementär zum ‚männlichen‘ ein ‚weibliches‘ Verhaltensrepertoire entwickelt und praktiziert haben, ein Gegengewicht; wenn Frauen sich dem Mann hinzuaddieren als das untergeordnete andere Geschlecht; wenn Frauen das männliche Individuum schützen und abschirmen, indem sie ihre Ressorts so strukturieren, daß der Mann für seine Taten freigesetzt werden kann, wenn sie so handeln und denken, wie es einer patriarchalen Logik entspricht und diese als menschliche Logik mißverstehen … So werden Frauen höchstens zu Konkurrentinnen von Männern; so sind sie im männlichen Bündnis aufgenommen, so droht von ihnen keine Gefahr. Sie gehören dazu.

Was macht Dich besonders wütend?

Wenn wir zum Beispiel bedenken, dass Frauen in der Schweiz erst 1971 (in manchen Kantonen erst 1990!) das Stimmrecht bekommen haben, und dass es bis heute kein wirkliches Unrechtsbewusstsein darüber gibt, dass der Hälfte der Bevölkerung die Mitbestimmung enthalten wurde, kann frau schon richtig wütend werden. Die Einführung des Frauenstimmrechts wird bis heute in der Schweiz als Nebensache betrachtet. Würde man es als Kernelement der Schweizer Demokratiegeschichte betrachten, müsste auch die massive Grundrechtsverletzung ernst genommen werden. Und es würde sofort klar, wie fundamental exkludierend unsere so genannte Demokratie lange war – und bis heute ist (vgl. „Ausländer_innen“-Stimmrecht, 25 Prozent der in der Schweiz lebenden Bevölkerung darf nicht abstimmen, weil Einbürgerung nur zögerlich möglich ist usw.).

Aber das wird in der Regel unter den Tisch gekehrt, weil man das Märchen von der demokratischen Top-Schweiz aufrecht erhalten will. Es wird nicht gesagt, dass die Schweiz keine Demokratie war (und ist). Diese kritische Demokratiegeschichte wird an Schulen nicht wirklich unterrichtet, man erfährt das dann irgendwie per Zufall. Darüber kann man schon ganz schön wütend werden, auch weil Frauen deshalb immer wieder von vorne anfangen müssen. Wenn das Wissen über Unrecht nicht kanonisiert wird, nicht in die allgemeine Bildung dringt, muss jede Generation sich wieder mühsam alles selbst aneignen, ein Geschichtsbewusstsein entwickeln, um die eigenen Ungleichheitserfahrungen einordnen zu können.

Was heißt das konkret?

Auch ich sehe mich zum Beispiel damit konfrontiert, immer wieder Basics vermitteln zu müssen, in Interviews oder eigenen Artikeln, man fragt mich Dinge, die so unbedarft sind, dass ich mich wegschmeißen könnte. Das ist nicht die Schuld von einzelnen Journalist_innen oder Menschen, sondern es hat System. Die Historikerin Gerda Lerner hat ein Buch über die Entstehung von feministischem Bewusstsein geschrieben. Sie beschreibt eindrücklich, auf welche Weise weibliche Wissensgenealogien immer wieder komplett verloren gehen, ausgelöscht werden und damit das feministische Bewusstsein, das Unrechtsbewusstsein immer wieder von neuen aufgebaut werden muss. Das ist ermüdend.

Und plötzlich haben wir einen Aufschrei (oder andere Ereignisse) und es wird deutlich, dass Frauen immer noch begrabscht, objektiviert, entwürdigt werden. Und alle scheinen irgendwie überrascht, und wir fangen wieder von vorne an mit all den Analysen, die die Systematik dahinter erklären, sichtbar machen. Als ob das nicht schon tausende vorher gemacht hätten. Jetzt stehe ich per Zufall in den Schweizer Medien, weil ich Dinge öffentlich sage und per Zufall zum richtigen Zeitpunkt initiiert habe, und auch, dass ich gehört werde, andere nicht… ist mit Privilegien verbunden. Ich kann es vielleicht einigermassen gut vermitteln, aber inhaltlich, mal ehrlich: Ich sage nicht viel Neues, nichts, was nicht unzählige Frauen, Feministinnen vor mir gesagt hätten. Anne Wizorek und die ganze Aufschrei-Debatte in Deutschland, das war wichtige Vorarbeit, vor deren Hintergrund wir in der Schweiz den Hashtag lancieren konnten. Ich war während dem Aufschrei in Deutschland, und habe viel gelernt, auf das ich jetzt in der Schweiz zurückgreifen kann. Und deshalb ist mir auch total bewusst, wie wiederholend das alles dauernd ist.

Es gibt also Gründe, wütend zu sein. Die Wut der Frauen hat mit einer Geschichte der Verletzung zu tun, zum Beispiel die Verletzung, nicht gehört zu werden, oder nur sehr temporär. Verletzungen, die wir auch erben, die wir in unseren Körpern und Psychen tragen. Es gibt Forschung über das so genannte Post Traumatic Slave-Syndrome (Joy DeGruye), das heißt Psycholog_innen haben gezeigt, dass die rassistischen Gräuel der Vergangenheit als Trauma über Generationen vererbt werden. Das kann man natürlich nicht eins zu eins vergleichen, aber die Verletzung, als Menschen zweiter Klasse behandelt worden sein, das sitzt tief und wird über Generationen Frauen weiter vererbt. Was meine Großmütter oder Urgroßmütter erfahren haben, das trage ich in mir. Davon bin ich überzeugt. Und wenn ich mir ihre Geschichten verhinderter Abtreibungen, unglücklicher Ehen und Gewalterfahrungen anschaue, dann denke ich: die haben das weiter gegeben. Natürlich haben sie nicht nur das Leid weiter gegeben, sondern auch Widerborstigkeit, die Kraft zu überleben und all das. Was ich sagen will: Ich sehe mich stark in einer Genealogie. Ich trage nicht nur eine eigene individuelle Wut oder Erfahrung in mir, sondern Erfahrungen von vielen Frauen vor mir.
All das bedeutet nicht, Frauen seien durchwegs Opfer, Frauen handeln. Auch wenn sie Opfer von Gewalt wurden, sind sie handelnde Subjekte, die ihr Leben gestalten. Sie haben „agency“ und gestalten nicht nur ihr eigenes Leben, sondern, wenn auch oft unbemerkt, die Welt und die Geschichte mit. Sie haben Handlungsmacht, sie handeln – und zwar bei weitem nicht nur „gut“. Nicht zuletzt sind Frauen auch, wie viele Beispiele zeigen, Täterinnen. Frauen sind nicht un-kritisierbar! Als weiße Frau ist man zum Beispiel in einer rassistischen Gesellschaft oft auch Täterin. Frauen können auch manipulieren, Macht ausüben, andere schlecht behandeln. Logisch.

Dennoch: wenn Frauen das fortbestehende „phallokratische System“ und dessen unterschiedliche Effekte kritisieren, finde ich es falsch und anmaßend, als erstes mit dem Argument zu kommen, Männer seien aber doch auch schlecht dran, Frauen seien schließlich auch „böse“, oder Frauen gar vorzuhalten, sie würden umgekehrten Sexismus betreiben. Damit entzieht man sich der Auseinandersetzung über ein grundlegendes Herrschaftsverhältnis.

Kommt es darauf an, wie feministische Kritik formuliert wird? Gibt es bessere oder schlechtere Arten, feministische Kritik zu formulieren?

Oft wird Frauen vorgehalten, sie sollten ihre Kritik nicht so konfrontativ formulieren, es wird ihnen gesagt, wie sie ihr Anliegen besser formulieren sollten, damit sie auch von Männern gehört werden kann. Aber der Punkt ist, dass auch eine nett formulierte Kritik nicht hörbar ist, nicht gehört werden will von jenen, die mehr Macht haben. Das ist ja die Logik von Machterhalt, diese Kritik abzuwehren.

Meine Erfahrung ist, dass, egal wie du es formulierst, ob akademisch, freundlich, diplomatisch oder aktivistisch wütend oder beides, es wird versucht, gerade wenn es von Frauen kommt, noch mehr, wenn es von Frauen of Color kommt, ein Grund zu finden, sich nicht darauf einzulassen. Aber man muss verstehen: Würden unsere Anliegen oder Kritiken mit offenen Armen empfangen, bräuchte es sie wohl nicht mehr. Gerade diese Abwehr zeigt ja, wie nötig die Kritik ist. Und wie sehr hier ein Punkt getroffen wird. Ich finde die Forderung, Feminismus müsse sexy sein, komisch. Da landen wir schnell im Gefälligkeitsfeminismus, der versucht, es allen recht zu machen, auch denen, die man eigentlich kritisiert. Aber das ist ja unmöglich! Egal was und wie du forderst, es wird als „übertrieben“, gar „autoritär“ diskreditiert.

Kannst Du ein Beispiel nennen?

Zum Beispiel Lann Hornscheidt: Hornscheidt hat einen Lehrstuhl für Gender Studies und Sprachanalyse an der Humboldt Universität in Berlin und hat einen Vorschlag gemacht, wie eine gender-inklusivere, nicht-binäre Sprache aussehen könnte. Es war ein Vorschlag, und Hornscheidt hat das gleich ausprobiert, und die Vorschläge selbst angewendet. H. hat nicht gefordert, dass alle eingesperrt werden, die nicht folgen. Hornscheidt hat lediglich den Wunsch geäußert, man möge sie_ihn so ansprechen. Die Heftigkeit der Reaktionen war enorm. H. wurde angefeindet, bedroht,usw. – als habe Horschneidt gefordert, ab sofort Zoo-Tiere mit Babys zu füttern. Ein häufig hervorgebrachtes Argument war, die Sprache sei unveränderbar. Man bezog sich auf die Natur der Zweigeschlechtlichkeit. Da muss ich sagen: Wenn man sich über diese Natur so sicher ist, könnte man es doch gelassen nehmen, weil diese Natur ja alles richtet, oder? Warum ist Hornscheidt so eine Provokation? Wenn man doch so sicher ist, dass die Natur unumstößlich ist und alles richtet? Dass Vorschläge zur Veränderung so hart angegangen werden zeigt, dass viele Menschen hier eben gerade nicht sicher sind. Sie spüren vielleicht eigene homosexuelle Tendenzen, die nicht sein dürfen, sie spüren, dass geschlechtliche Lebensweisen und Sexualität eben nicht einfach feststehen, und deshalb muss umso vehementer das Argument der Natur, der Ewigkeit bemüht werden.

Ist es in der Schweiz wie in Deutschland, dass die größten Rassisten die Menschenrechte von Frauen immer nur in anderen Ländern interessieren?

Ja, auch in der Schweiz kennen wir das Phänomen, zum Beispiel bei der Aussschaffungsinitiative [Ausschaffung ist der Schweizer Begriff für Abschiebung] wurden „kriminelle Ausländer“ auch als potentielle Vergewaltiger dargestellt, und auch in Diskussionen rund um den Islam geht es oft darum, „unsere Frauen“ zu schützen, die SVP verwendet hier ein ganz paternalistisches Bild, beschützt werden soll natürlich eine ganz bestimmte Frau, eine traditionelle, und da argumentiert man paradoxerweise dann auch mal mit Frauenrechten. Stellt sich als fortschrittlich dar, um im gleichen Atemzug normative Vorstellungen von Frausein, von Ehe oder Familie zu formulieren. Das ist alle sehr scheinheilig.

Aber auch linke Männer äußern sich – das habe ich beobachtet- oft erst dann zu Sexismus, wenn sie damit gleichzeitig rechtsnationale Kräfte kritisieren können, den großen mächtigen Männern à la Trump ans Bein pissen können. Es gibt eine Art männliches Faszination für die Macht, für viele Männer wird ein Problem erst dann relevant, wenn sie es einsetzen können in ihrer Abarbeitung an den Mächtigen (also wieder an anderen Männern). „Für sich genommen“ denken sie nicht drüber nach. Damit wird das Problem (zum Beispiel Sexismus) letztlich auch „verandert“ : Sexismus ist ein Problem der anderen Männer, der Rechten (oder eben der Muslime usw.) usw.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was wir da anderes tun können, als immer und immer wieder den Finger drauf zu halten, Reflexion einzufordern. Und dabei selber nicht in die Falle zu tappen, uns an Männern abzuarbeiten, die in Abwehr oder Gleichgültigkeit stehen. Denn das ist ein enormer Energieaufwand. Ich möchte meine Kräfte bündeln auf diejenigen, die offen sind, die sich auf Neues einlassen. Und mich sicher nicht in ewigen Diskussionen verlieren darüber, ob es überhaupt Machtasymmetrien im Geschlechterverhältnis gibt. Ich habe hier keinen „All inclusive“ Ansatz, ich diskutiere nicht mit allen. Man mag mich dafür kritisieren oder mich für arrogant halten, aber wenn ich das täte, könnte ich nicht mehr die Dinge tun, die mir am Herzen liegen, die mir selber wichtig sind. Dann wäre ich fixiert auf Opposition und den Versuch, mich dauernd erklären zu müssen. Das lähmt mich aber. Mein Anspruch ist nicht, alle mitzunehmen, zu überzeugen. Ich kann und will das nicht. Und zwar deshalb, weil ich mich nicht am ‚Gegner’ abarbeiten will, sondern mein eigenes Denken und Politisieren voranbringen will. Ich habe hier viel von Feministinnen wie Antje Schrupp gelernt, die den italienischen Differenzfeminismus in den deutschsprachigen Raum gebracht haben. Und da geht es immer erstmal um die Frage: Wie kann frau möglichst frei sein, möglichst das tun, was ich wirklich möchte?

Was habt ihr vom Schweizer Aufschrei gelernt? Kommen die Auswirkungen des Internets auf die Sphäre der Öffentlichkeit auch bei Leuten an, die bisher z.B. von feministischen Ideen unberührt blieben und nun gemerkt haben, dass sie ja gar nicht allein mit ihrem Problem sind?

Ich habe den Eindruck, dass einiges in Bewegung geraten ist. Aber sicher nicht nur wegen dem Aufschrei, da sind sehr viele unterschiedliche Leute und Akteur_innen beteiligt, und viele Ereignisse kommen da zusammen. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass sich viele wieder trauen, sich feministisch zu äußern, vor allem auch jüngere Frauen, es gibt Aktivistin.ch, die seit einiger Zeit medial stark unterwegs sind, mit tollen Aktionen. Wir haben Einzelpersonen, aber auch in den Parteien werden wieder selbstverständlicher feministische Anliegen hervorgebracht. Gerade wurde verhindert, dass beim eidgenössischen Büro für Gleichstellung gekürzt wird. Und ja, auch Männer beteiligen sich an feministischen Debatten und Aktionen und sind solidarisch. Ebenfalls eher anzutreffen in der jüngeren Generation. Das alles ist sicher auch eine Reaktion auf den Rechtsrutsch. Die progressiven Kräfte wachen auf. Es ist ernst. Und wir wissen, dass gerade Frauenanliegen, Minderheitenanliegen (die eben eigentlich nicht Minderheiten anliegen sind, sondern das Allgemeine betreffen), besonders drastisch betroffen sind bei einem Rechtsrutsch.

Es wurde zwar viel erreicht in den vergangenen Jahrzehnten. Aber das alles ist nicht garantiert, die demokratischen Institutionen, die Grundrechte, all das sitzt auch in Europa nicht einfach im sicheren Sattel. Schon gar nicht für Frauen. Wir sehen es in Polen, wie schnell es passieren kann, dass Grundrechte, die speziell Frauen betreffen, infrage stehen. Nochmal: Es hat sich viel verändert, wenn ich meine Leben mit dem meiner Großmütter vergleiche: Wir dürfen abtreiben, Sex haben mit wem wir wollen, uns scheiden lassen, Geld verdienen, abstimmen. Es gibt Professorinnen, Gleichstellungsbüros, Kinderkrippen und all das. Es hat sich etwas verändert (wobei auch gefragt werden muss: für welche Frauen? Welche Frauen genau haben mehr Einfluss, mehr Möglichkeiten erhalten?). Es haben sich also Dinge geändert und verbessert. Aber wir haben uns auch darauf ausgeruht. Die Erzählung, wir seien doch jetzt gleichgestellt und alles sei besser oder gar gut, hat verhindert, die fortbestehenden und nach wie vor grundlegenden Asymmetrien aufs Tapet zu bringen. Asymmetrien, die sich besonders drastisch beim Thema der sexualisierten Gewalt zeigen. Aber auch in der Care-Arbeit: Trotz Gender-Flexibilisierung wird diese ganze Sorge-Arbeit nach wie vor gratis und/oder unter oft prekären Umständen erledigt, und zwar fast ausschließlich von Frauen, zunehmend von nicht-weißen Frauen, Frauen mit Migrationshintergrund. Diese Tätigkeiten sind abgewertet, weil sie so lange als Gratisarbeit an Frauen delegiert wurden, und werden auch heute an die schwächsten Gesellschaftsmitglieder delegiert. Das hat damit zu tun, dass sie nicht kommodifizierbar sind in der vorherrschenden ökonomischen Logik. Auch diese Aspekte sind in der Erfolgsnarrationen über Frauen wie Sheryl Sandberg, Angela Merkel oder anderen untergegangen.

Die Schweiz ist ja vor u.a. auch deshalb so reich, weil sie jahrzehntelang das Schwarzgelddepot der Welt war. Jeder Diktator und Mafiaboss konnte seine Milliarden auf einem Nummernkonto parken und hat das dann auch getan. Die Schweiz hat also enorm von der Globalisierung und der in andere Länder ausgelagerten Unterdrückung profitiert. Gleichzeitig muss da ja schon ein spezieller bzw. offenbar gar kein Wind wehen, wenn – wie Du erwähnt hast – im berüchtigten Kanton Appenzell-Innerrhoden erst 1990 (!) das Frauenwahlrecht vom Bundesgerichtshof erzwungen wurde. Also so eine Art Mischung von Hochgeschwindigkeitskapitalismus bei gleichzeitig rückständiger Kultur. Sehnen sich die Leute auch in der Schweiz nach einer erfundenen Idylle zurück?

Ja, alles soll so bleiben, wie es nie war. Diese Gleichzeitigkeit von Hochgeschwindigkeitskapitalismus und Traditionalismus ist augenfällig. Es gibt eine Unbedarftheit, ein Wunsch nach Gemütlichkeit hier, die kann ich oft kaum fassen. Ich habe das Gefühl, das hat auch damit zu tun, dass die Schweizer_innen irgendwie nicht diese grossen Brüche erlebt haben (Faschismus, Diktaturen, Kolonialismus usw.), es gibt nicht diesen grossen Druck zur kritischen Selbstreflexion (obwohl gerade auch der indirekte Kolonialismus à la Suisse das eigentlich erfordert, aber das ist eben alles erst am Anfang).

Halten wir uns vor Augen, dass unser Staatsfernsehen ohne jede böse Absicht vor kurzem einen Sketch ausstrahlte, in dem sich eine geistig normale und keineswegs rechtsradikale Frau zur besten Sendezeit den Hintern ausstopfte, und mit Tierlauten eine „Schwarze“ mimte. Man gerät argumentativ in eine Sackgasse, wenn man erklären will, was für ein ultraprovinzielles Klima in einem Land herrscht, in dem hinter einer solchen Aktion nicht mal ein klitzekleiner rassistischer Vorsatz steckt – sondern tatsächlich Unbedarftheit. Milo Rau hat mal gesagt, das sei doch fast ein bisschen nordkoreanisch, so wenig Bewusstsein für die Wahrnehmung der Außenwelt, über koloniale Geschichte und koloniale Verstrickungen der Schweiz. Ich will nicht nur auf dem Schweizer Fernsehen herumhacken, die sind ja auch nur die Spitze des Eisberges, aber man kann das hier beispielhaft zeigen: Vor zwei Jahren haben sie eine Doku-Fiction über die Schweizer Geschichte gedreht. Das Plakat war schon ein Hammer, da waren unter dem Titel „Die Schweizer“ nur Männer drauf, und es wurde klar: Man versteht unter „Geschichte“ nur Eisenbahnbau, Staatsgründung, Heldentum, es gibt wenig Bewusstsein für Sozialgeschichte, für alternative oder kritische Erzählweisen, denn dann würden auch andere Protagonist_innen in den Blick kommen. Ach ich weiß gar nicht, wo anfangen. Es ist wirklich oft schildbürger-mässig.

Neben der Unbedarftheit agieren aber natürlich auch wirklich gefährliche Rechtsextreme. Auch das ist ja verpönt, zu sagen, mit wem wir es bei der SVP eigentlich zu tun haben: Weil es mehrheitsfähig ist und folkloristisch daher kommt, kann es nicht extrem sein. Ist es aber! Die Feldzüge gegen angebliche „Sozialschmarotzer“, Invalidenversicherung, Geflüchtete, Gleichstellungsbeauftragte, kritische Wissenschaftlerinnen… All das ist überhaupt nicht unbedarft, das ist ideologisch gezielt und geplant: Es geht um Silencing, es geht um die Verdrängung von bestimmten Menschen, um die systematische Durchsetzung einer anti-pluralen und unsozialen Haltung, die in der Schweiz nun seit über 10 Jahren zunehmend Diskurs-bestimmend ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

9 Comments

  • Antworten Januar 4, 2017

    irgendeinname

    Ich verstehe nicht, warum Care-Arbeit nicht kommodifizierbar sein sollte. Ansonsten props an beide Beteiligten.

  • Antworten Januar 6, 2017

    almut schnerring

    Danke dafür! Habe viel mitgenommen!

  • Antworten Januar 8, 2017

    TraumA

    Also ich will auch noch andocken aus Trans Perspektive. Danke aber erstmal (ja das wiederholen kennen ich :/ )

    Gesamtstruktur die mit Männlichen Privilegien (die wenn du Trans bist entweder zum teil oder ganz abgibst oder Gewinnst) zu tun hat nicht als Phalisch oder gar am Penis festmachen. Das ist sexistisch gegenüber Trans Frauen oder trans femininen Menschen.

    Zur Unterdrückungsgeschichte gehören definitiv auch Trans Frauen.

    Frauenfeindlichkeit und feminitätsfeindlichkeit sind eng verbunden.

    Auch mit der Sozialisierung wäre ich vorsichtiger. Es ist eher dein Umfeld und dann auch deine Anpassungsfähigkeit (was nicht schöner ist wenn dus nicht performen kannst) oder auch eigener wille. Und für dein Restleben hilft dir eine pauschale Zuweisung zu Sozialisierung auch nicht weiter (was nicht heißt das Vergangenheit reflektieren schlecht ist). Einige werden ja erst spät trans Weil Elter/eltern & Schule nicht mehr einwirken (es gibt mehr Leute die den Kontakt zum Elternhaus gekappt/minimiert haben als 1 denkt) und endlich Luft sich zu entfalten. Sozialisierung ist ein dauerhafter Prozess.

    Und ja mehrfachdiskriminierung ist ein wichtiger point. Da zählt definitiv trans dazu.
    Da erlebe ich krasse aussagen von cis Frauen. Als würde 1 ernsthaft Betroffenheit anzweifeln und auchnoch wegnehmen.
    Oder es ist wird dann so plakativ auf Körper runterreduziert das plötzlich trans Männer oder trans maskuline Menschen nicht mehr davon betroffen sein können oder nie davon betroffen waren.

    Und rein beruflich kann von Karriere auch nicht wirklich gesprochen werden. Die die tatsächlich in Führungsebenen sind Klammer ich mal aus.
    Es ist für viele fast unmöglich ein job zu finden. Oder eben unter falschem Namen und Rolle.

    Es geht ums Patriarchat das uns u zerdrückt aber auch emotional abstumpft.

    Also bitte Trans Menschen mitdenken.

  • […] Maskulisten und Männerrechtler. Das beleuchtete vor wenigen Tagen Franziska Schutzbach in einem Interview des Ficko-Magazins. Wie sie selbst darin betont, ist das, was sie sagt, nicht neu. Es muss jedoch […]

  • Antworten Januar 11, 2017

    Franziska

    Hallo Trauma, ich bin mit allem, was du sagst, einverstanden. Ja, Transfrauen sind definitiv betroffen von dieser Unterdrückungsgeschichte, von Frauenfeindlichkeit und Feminitätsfeindlichkeit.

    Ich verwende „Phallus“ nicht als einen Körper-Begriff, sondern im Sinne einer symbolischen Ordnung. Die Struktur des Phallus ist eigentlich einfach ein anderer Begriff für Patriarchat oder Androzentrismus. Ich meine damit nicht den realen Penis, sondern eine symolische Ordnung. Aber es kann sein, dass ich im Interview ungenau formuliert habe.

    Ich werde beim Thema Mehrfachdiskriminierung gerne noch Trans nachtragen, ich habe das normalerweise auf dem Schirm, danke für die Erinnerung! Auch, dass Sozialisierung ein nie abgeschlossener Prozess ist, stimme ich dir zu, ich habe hier keineswegs festschreibende Körper- oder Identitätskonzepte. Falls das so rüber gekommen ist.

  • Antworten Januar 11, 2017

    Franziska

    Hallo Irgendeiname, sie ist natürlich bis zu einem gewissen Grad kommodifizierbar, ich denke ich wollte eigentlich sagen: profitabel. Man kann damit kaum Profite erzielen, eine alte Frau braucht eben so lange, um ins Bett zu gehen, wie sie braucht. Das kann eine Pfleger_in nur bis zu einem gewissen Grad beschleunigen. Es wird rationalisiert, aber ab einem bestimmten Punkt geht es nicht mehr. Deswegen wird dann eben bei den Löhnen gedrückt. Weil keine Profite erzielt werden, müssen – aus einer markwirtschaftlichen Logik heraus – die Löhne gedrückt werden. Was ja eben genau zu diesen unmenschlichen Situationen in der ganzen Care-Branche führt. Weil einerseits immer mehr Menschen älter werden und Betreuung brauchen, aber diese Branche kaum profitabel organisiert werden kann. Also wird die Arbeit ausgebeutet. So habe ich das jedenfalls verstanden in den Texten, die ich von feministischen Ökonomiennen gelesen habe.

  • Antworten Januar 13, 2017

    Mark Smith

  • Antworten Februar 23, 2017

    Markus Hofstetter

    Die Arbeit als Eltern mit der Arbeit im Beruf zu vergleichen, macht keinen Sinn. Denn die Arbeit wird aus unterschiedlichen Gründen gemacht. Jemand, der arbeitet, macht dies meist aus finanziellen Gründen. Auch als Eltern bekommt man Lohn, nur ist der nicht monetär. Wenn jemand sich entscheidet, Vater, oder Mutter zu werden, tut er/sie dies nicht aus Uneigennützigkeit. Dies ist nicht als Vorwurf gemeint. Wenn jemandem das Kinderkriegen überhaupt nicht zusagt, tut er/sie es auch nicht. Man entscheidet sich also, Kinder zu kriegen, weil man findet, es gibt einem mehr, als es kostet. Gleichzeitig möchte man dann auch noch finanziell entschädigt werden. Man möchte also die Vorteile haben, die Nachteile jedoch nicht. Klar, auf der einen Seite kann man sagen, sei es unfair, dass die Frauen die Kinder kriegen. Wobei selbst dies nicht stimmt. Schliesslich ist es für viele Frauen, der schönste Moment im Leben. Es ist letztlich unfair, dass man nicht wählen kann, wer die Kinder bekommt. Das ist nun mal die Natur.

    Es ist zwar nicht das Hauptthema, aber dass die Autorin der Schweiz die Demokratie abspricht, ist übertrieben. Die Demokratie ist sicher nicht vollkommen, es gibt aber auch Grautöne.
    Auch das Beispiel der Ausländer, die nicht stimmen dürfen, hinkt. Nicht alle Ausländer, die nicht eingebürgert werden, sind integriert. Umgekehrt gibt es auch unter den nicht integrierten welche, die eingebürgert werden. Ausserdem was es von Anfang an der Deal, es war klar, dass man nicht sofort stimmen kann. Es ist nicht gesagt, dass die Einwanderung goutiert worden wäre, wenn damit auch das Stimm- und Wahlrecht verknüpft gewesen wäre. Und dies ist auch in Ordnung so. Wenn ich jemand in die Wohnung lasse, bestimme auch ich, was er/sie darf und was nicht. Und wenn die Person bei mir wohnt und arbeitet, darf sie deswegen nicht sofort über das Haushaltsbudget mitbestimmen. Wenn die Person dies unfair findet, kann sie sich ja entscheiden, zu gehen. Aber eben, es ist ein Deal und der scheint für beide gestimmt zu haben. Schliesslich wurde niemand gezwungen, einzuwandern.

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