110m Hürden – Mach mal keine Szene!

Der Weg zu einer gerechten Welt ist lang. Seit Jahrhunderten, sogar Jahrtausenden geht es hin und her. Es ist ein Marathon und wir haben noch einiges vor uns. Politische Zusammenhänge, in denen sich Leute finden, die diesen Weg gehen wollen, haben darüber hinaus eine eigene Dynamik entwickelt, die den Weg oft genug noch erschwert. Zusätzlich zur sowieso schon schwierigen Großwetterlage, den nicht immer passenden Schuhen, den vom Wegesrand Steine werfenden Hater*innen, den Scharfschützen aus Polizei und anderen Behörden haben wir uns Hürden eingebaut, die alle paar Meter weit in den Himmel ragen. Destruktive Szenelogiken und Gruppendynamiken, die uns dazu bringen, mehr Zeit im Kampf mit den anderen auf demselben Weg, über dieselben Hürden, zu verbringen als mit der Bewältigung des Wegs. Die Textreihe “110 Meter Hürden” widmet sich den Problemen mit genau diesen Hürden. Denn es ist mitunter zum aus der Haut fahren mit diesen Linken. Ohne Haut ist aber bisschen kalt, außerdem klebt dann die Kleidung relativ unangenehm, also lasst uns das in gegenseitigem Einverständnis für kinky Häutsessions aufheben. Zu diesem ersten Text kommt in ein paar Tagen die Antwort von Berena Yogarajah, danach folgen monatlich die weiteren Teile abwechselnd mit uns beiden. Die Reihe basiert auf der Kulturtechnik des Gesprächs, also redet gern mit, schreibt eigene Texte, antwortet mit Videos oder was euch gefällt. Wir haben nicht vor, unsere Einwürfe als die letzten Weisheiten in jederlei Hinsicht zu behandeln, sondern als Einstieg in eine Debatte. Also bitte nicht anhand eines einzigen Wortes oder Satzes nachweisen, dass wir die bösen Teufel sind. Das wäre schön.

Mach mal keine Szene

Hey, na!? Bist du auch politisch interessiert und würdest gern etwas tun gegen die Scheiße in der Welt, für gute Sachen und gegen schlechte? Mega! Schön, dass du da bist, herzlich willkommen! Kannst einfach anfangen, was interessiert dich? Leg los, let’s go. Such dir ein, zwei Leute, die du magst und die auch dein Unbehagen angesichts der Lage der Welt teilen. Wir helfen dann, wo wir können. Einfach mal anfangen! Du wirst das schon gut machen. Und wenn nicht, auch egal, dann lernst halt was und kannst es beim nächsten Mal besser. Fehler sind voll ok und sogar wichtig, wenn du was lernen willst.

Hä, was? Moooment mal, wer bist du denn überhaupt, wer seid ihr? Wen kennt ihr, was haben eure Vorfahren gemacht und welche Wörter haben sie benutzt? Was wollt ihr? Habt ihr überhaupt das Codewort gesagt? Die richtigen Bücher gelesen? Könnt ihr die richtigen Tänze? Habt ihr euch bei den wichtigen Leuten schon unterwürfig bekannt gemacht und die passenden Geschenke mitgebracht? Tragt ihr die richtigen Klamotten? Habt ihr den richtig wahren Gesichtsausdruck und am besten nie Spaß? Weil sonst könnt ihr euch das mal GANZ SCHNELL aus dem Kopf schlagen. Hier kann man nicht einfach mal herkommen und loslegen. Wir sind hier eine kleine, kuschelige Gemeinschaft mit kompliziert austarierter Thronfolge und Diadochenkämpfen, wir sind eine Szene und da gibt es klare Regeln, Befugte und Unbefugte. Je nachdem, in welche Unterkategorie man hineingespült wird und was da die jeweiligen Details sind: Es gibt Kämpfe um die Deutungshoheit, die mit einer Vehemenz ausgefochten werden, dass man sich fragen kann, ob es eigentlich noch relevante Konflikte außerhalb der Szene gibt, wegen denen man mal angefangen hat, sich politisch zu interessieren. 

Das hat damit zu tun, dass aktivistische Politik abseits der Parteien meistens als Szene organisiert ist bzw. sich über die Jahre aus subkulturellen Strukturen entwickelte. Die haben und hatten alle ihre Berechtigung und ich mag es niemandem verdenken, sich 1987 in Vorderwestermurr lieber einer aufregenden Jugendbewegung aus New York anzuschließen und ab sofort HipHop zu representen statt in der örtlichen Feuerwehr saufen und Emotionen unterdrücken zu lernen. Aber – kurz mal auf den Kalender geschaut – wir sind im unfassbar futuristischen Jahr 2021. Es gibt das Internet. Die Welt ist jetzt, wie sie ist und da sind Szenen, feste Milieus mit klaren Hierarchien, ganz eindeutige, in Stein gemeißelte Identitäten und all so ein Zeug nicht mehr so wichtig. Diese Realität muss man anerkennen, wenn man politisch mit dem Konzept “Realität” umgehen möchte. 

Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass der Menschheit nur noch wenige Jahre bleiben, das Ruder rumzureißen, sonst werden wir in einem Clusterfuck von Klimakatastrophe, Faschisierung, spätkapitalistischer Dystopie und Blutbad enden. Von der mörderischen Brutalität des schon jetzt komplett abgefuckten Systems einmal ganz abgesehen.
Diese Szenarien wird keine kleine Szene abwenden, da brauchen wir stabile Menschenmassen von hunderten Millionen von Menschen, die richtig Rabatz machen. Die wiederum werden nur mitmachen, wenn die ganze Angelegenheit nicht von hirnverbranntem Szenequatsch so unattraktiv gemacht wird wie das zumindest in den Kreisen, die ich überblicken kann, passiert.

Das ist gar kein Gejammer, dass alles so richtig furchtbar schlecht läuft und alle alles falsch machen, wie man das bei Podiumsdiskussionen gern mal hört (kritische Haltung und so). Das stimmt nämlich gar nicht. Es gibt ganz tolle Leute, prima Gruppen und auch politische Erfolge. Aber wir sind insgesamt zu wenige für den Aufbau einer gerechten Welt. Viel zu wenige. Auch wenn da etwas passiert und so langsam auch manchmal zaghafte Kritik an z.B. Nazinetzwerken bei der Polizei, Bundeswehr, Verfassungsschutz, Justiz usw. sogar in bürgerlichen Bastionen der Verleugnung geäußert wird: Jemand wie das fleischgewordene #Deutschlandproblem Horst Seehofer ist immer noch unangefochten im Amt, so weit ist es also mit der Macht einer wie auch immer definierten Linken nicht her. 

Das hat neben anderen strukturellen Dingen (die Zeiten, die Zeiten!) auch mit der oben angerissenen Szenelogik zu tun hat. Mit Dynamiken, mit denen man fast automatisch konfrontiert wird, wenn man sich politisch engagieren und organisieren will in z.B. antifaschistischer, antirassistischer, antisexistischer, antikapitalistischer, queerfeministischer, gutmenschlicher, kommunistischer oder welcher Manier auch immer. Und ich wage die Behauptung, dass diese destruktiven Szenelogiken mehr kaputtmachen als der gesamte Verfassungsschutz je an subversivem Potenzial zerstören könnte. Machen wir uns nichts vor: In Deutschland ist man mit all den genannten Anliegen gesamtgesellschaftlich zumindest diskursiv eher erst einmal in der Defensive, in der Minderheitenposition, muss sich rechtfertigen und alltäglich darum kämpfen, nicht belächelt bis angegriffen zu werden. Also sucht man sich Leute, mit denen man Grundsätzliches nicht jedes Mal von Anbeginn der Zeiten an diskutieren muss. So funktioniert der Mensch, daran ist nichts verwerflich. Und mit Leuten, die Ideen teilen, baut man sich auch Räume, in denen Dinge in den Aspekten, die einem wichtig sind, besser laufen als in der Restwelt.

Das Problem ist aber, wenn vor lauter Rückzugsraum gar nicht mehr die Gesamtgesellschaft politisch anvisiert wird und somit die womöglich erreichten Fortschritte auch nur für die In-Group wirkmächtig werden sollen. Komm in unseren Verein, bei uns ist alles besser! Aber unterwirf dich hier und da diesen und jenen Statuten, sonst gibt’s auch keine Befreiung für dich. Zum einen sind Gruppen, die sich primär ausschließlich defensiv ausrichten (anti-faschistisch, anti-rassistisch, anti-kapitalistisch usw.) per Definition abhängig vom Objekt der Ablehnung. Sie können nur reagieren, sie rennen letztlich immer hinterher und enden irgendwann mit der Uniform der unfreiwilligen Feuerwehr im Aktivismus-Burnout. 

Zudem folgen wir ja einer Szenelogik, da ist auch Coolness immens wichtig. So richtig recht ist es uns zudem irgendwie gar nicht, wenn andere unsere Ideen aufgreifen, wir wollen ja gar nicht Mainstream werden. Immer schön Nische bleiben, da lässt sich die feudale Logik von diskursivem Herrschaftsanspruch einfacher aufrechterhalten. 

Das ist aber nicht politisch, es ist narzisstische Selbstbespaßung. Ja, es ist dir sehr wichtig, dich mit einer vermeintlich politischen Begründung wie das letzte Arschloch zu verhalten. Das hat sicher mit Verletzungen zu tun, die dir zugefügt wurden, das ist auch wieder nur menschlich.
Kann es vielleicht sogar sein, dass du auch nur ein Mensch bist und damit auch Teil von diesen acht Milliarden Problemfällen, wie wir alle? Ich weiß, das ist fast schon Hatespeech, aber hier und da mal einen Gang runterschalten hilft sogar politisch. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass jeder politische Anspruch von Leuten, die regelmäßig auf anderen rumtrampeln, nichts wert ist. Denn was bringt dir denn der Anspruch, wenn er sich auf die Theorie beschränkt und nicht die Praxis deines Alltags miteinbezieht? Die meisten Menschen leben eher in der Praxis und nicht in Büchern. Und im Gegensatz zu einer wirkmächtigen Vorstellung sind auch die meisten Menschen gar nicht so krass merkbefreit. Die checken schon, dass da irgendwas nicht stimmt, wenn zu den großen Reden von Freiheit auf theoretischer Ebene eine eher erbärmlich kleingeistige Verkniffenheit, Missgunst, Böswilligkeit und Kritikabwehr in der Praxis kommt.

Ja ok, dein politisches Handeln erschöpft sich vor allem darin, durch Hot Takes auf einer der diversen Werbeplattformen politische Rival*innen aus derselben fucking Nische anzugreifen, um deine Marke zu stärken und irgendwann von dieser einen, noch größeren Marke aufgekauft zu werden? Cool, das bringt uns auf jeden Fall weiter! Dein Leben ist also ein sarkastischer Meta-Kommentar auf die macchiavellistische Erbarmungslosigkeit im Spätkapitalismus. Aber willst du das wirklich? Willst du ein zynischer Witz sein oder willst du etwas erreichen?

Und nein, nochmal: Es ist nicht alles verloren. Es gibt in der Praxis viel mehr Leute, die das alles checken und die nicht jeden Konflikt auf Twitter austragen, die viel Erfahrung haben oder auch nicht, auf jeden Fall nicht ständig nur mit Rechthaberei, Beschämung und Vorwürfen arbeiten, sondern auch Wertschätzung und Anerkennung im Repertoire haben. Und so eben auch Erfolge erkennen können und mit Erfolgen weiterarbeiten. Gutmenschlichkeit nämlich. Aber diskursiv sind sie innerhalb linker Diskurse fast immer in der Defensive. Und so erscheint die Draufsicht mit genug Abstand nicht mehr so weit von einer Fleischhauer-Kolumne entfernt, wie das eigentlich besser wäre. 

Wir können daran etwas ändern, indem wir uns von der Szenelogik verabschieden und nach draußen treten. Da weht ein rauher Wind, ja. Und wir brauchen all die Räume, die erkämpft wurden, auch weiterhin. Aber wir müssen sie öffnen, um so viele Leute werden zu können, wie wir brauchen, um uns zu retten. Let’s go.

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form macht Musik mit HipHop-Hintergrund und hat FICKO gestartet. Er grüßt alle, die ihn kennen, vor allem den Sachbearbeiter im Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg!

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