Freiwilligenarbeit in Afrika hilft nicht – weder den Kindern noch der eigenen Selbstfindung

von Deborah Schmitt

Vor einem Jahr bestand mein Leben aus zwei Fragen.

Nummer eins: Wie schaffe ich meine Prüfungen, wenn mich meine Lehrerin hasst?
Nummer zwei: Was mache ich, wenn ich das Abitur schaffe, abgesehen von orientierungslos und überfordert sein?

Ich wollte reisen und etwas Gutes tun, aus meinem gewohnten Kontext raus und die Welt kennenlernen. Also so ziemlich das, was jeder nach dem Abi macht, der sich nicht direkt in ein Studium oder eine Ausbildung begibt. Wenn man sich neben dem Reisen engagieren will, wieso nicht mal „Freiwilligenprojekte“ googlen? Ich ließ mir Kataloge zuschicken und scrollte durch die Angebote auf Websites. Doch irgendwas störte mich daran. Ich dachte nicht nur an die hohen Preise, sondern sah auch die T-Shirts, die von ehemaligen Freiwilligen strahlend auf den Fotos in den Katalogen präsentiert werden. Auf den knalligen Farben der Shirts ist das Logo des Anbieters gedruckt.

Zwischen den Seiten konnte ich auswählen:
Tieren oder Menschen helfen?
Kontinent? Land?
Art der Unterkunft?
Zeitraum des Aufenthalts?
Brauche ich einen Pool vor der Unterkunft?

Nicht nur die Hilfe, sondern auch meine Umstände während ich helfe, könnte ich also kategorisch auswählen.

„Irgendwas stimmt hier nicht“, dachte ich. Also entschied ich, dass so ein Programm für mich nicht weiter in Frage kommen wird. Zunächst, weil ich keine 2.000 € auf dem Konto hatte. Der Wunsch blieb aber trotzdem, weshalb ich mich oft mit Bekannten unterhielt und irgendwann durch Kontakte meiner Familie die Chance bekam, eine Reise gemeinsam mit einer einheimischen Schulleiterin in Kenia zu organisieren.

Die ganze Organisation selbst zu übernehmen, das ist natürlich anstrengend.
Aber die Reise an sich war nicht einfacher als die Organisation und das ist genau richtig so. Denn so ist man gezwungen, sich schon im Vorhinein mit der Kultur und dem Ort auseinanderzusetzen und sich darauf vorzubereiten.

Der historische Hintergrund erlaubt hierarchisches Denken nicht

Seit 1895 war Kenia in britischer Kolonialherrschaft und erlangte 1963 die Unabhängigkeit. Einheimische erzählten mir, wie weit sich das Land in den letzten 55 Jahren entwickelt hat. Die Infrastruktur wird ausgebaut, das Bankensystem effizienter gemacht, sodass zunehmend mehr Menschen in der Lage sind, Kredite aufzunehmen und in eine Geschäftsidee zu investieren.

Auch wenn Tourismus ein sensibles Einkommen ist, treibt er die Wirtschaft in guten Zeiten erheblich an. Die Verfilmung von Karen Blixens „Jenseits von Afrika“ weckt die Abenteuerlust auf das Land. Einer der bekanntesten Nationalparks befindet sich ebenfalls in Kenia. Im Massai Mara kann man die Safarinächte in Zelten verbringen und tagsüber die Artenvielfalt im Tierreich kennenlernen. Außerdem gibt es wunderschöne Strände an der Küste, beispielsweise in Mombasa.

Terror und Krankheiten sorgen aber immer wieder für Einbrüche in den Einnahmen durch Tourismus. 1998 gab es einen Bombenanschlag auf die US-Botschaft mitten im Zentrum von Nairobi. Es gab über 220 Tote und mehr als 4000 Verletzte. (https://www.liportal.de/kenia/wirtschaft-entwicklung/#c1437)
Das Auswärtige Amt warnte 2003 vor einer Reise in die kenianische Hauptstadt, da Hinweise auf Terroranschläge auf westliche Hotels und andere westliche Einrichtungen vorlagen. (http://www.faz.net/aktuell/reise/kenia-auswaertiges-amt-warnt-vor-reisen-nach-nairobi-1129938.html) Auch wenn man sich heute die Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes durchliest, wird man deutlich vor Terrorismus, Kriminalität, dem unsicheren Straßenverkehr und den Verkehrsmitteln gewarnt. (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/kenia-node/keniasicherheit/208058) Die Hinweise las ich mir allerdings erst durch, als schon feststand, dass ich nach Kenia reisen würde.

Auch der allgegenwärtigen Korruption wird schon seit Längerem den Kampf angesagt. Der Vater meiner Gastfamilie arbeitet in der Ethik- und Antikorruptionskommission, die seit 1956 für mehr Gerechtigkeit sorgt. (http://www.eacc.go.ke/default.asp?pageid=2)
Mein Gastvater sprach mit mir viel über seine Arbeit und die Politik in Kenia und in Deutschland. Er erzählte mir beispielsweise von Fällen, in denen Bürger ihr Landbesitz gewaltsam entrissen wird von Menschen, die mächtiger oder einflussreicher als sie selbst sind. Er und seine Kollegen sorgen dann dafür, dass die rechtmäßigen Besitzer ihr Land zurück bekommen und nicht unterdrückt und beraubt werden. Auch bei diesen Prozessen kommt es häufig zu Gewalt. Vor einigen Jahren wurde der Mann, der mir gegenübersaß und von seiner Arbeit erzählte, angeschossen, weil diejenigen, die korrupt waren, ihn ausfindig machten und sich an ihm rächen wollten. Seine Familie war an diesem Tag im Haus, seine Kinder, also auch meine Freundin, und das Hausmädchen. Das Hausmädchen hat beide dieser Männer, die an dem besagten Tag im Anzug vor dem Tor ihre Waffe auf sie richteten, gesehen und verlässt das Haus heute nur noch mit Vollverschleierung. Die Männer wurden zwar festgenommen, aber die Gefahr, sobald sie entlassen werden, besteht weiterhin.

Die Errichtung der Kolonialherrschaft 1895, wie auch der Befreiungskampf („Mau-Mau-Krieg“) dagegen in den 1950er Jahren liefen sehr gewaltsam ab.
Um sich gegen die Besiedlung und den Landraub durch die Kolonisatoren zu wehren, wurde eine politische Organisation gegründet, die East African Association. Diese wurde von den Kolonialherren gleich wieder verboten. 1952 wurde aufgrund des Kikuyu-Aufstandes („Mau-Mau-Verschwörung“) der Ausnahmezustand ausgerufen. Bis der Ausnahmezustand im Dezember 1959 wieder aufgehoben wurde, sollen etwa 14 000 Mau-Mau-Kämpfer, aber nur 95 Kolonisatoren getötet worden sein. Der angebliche Rädelsführer des „Mau-Mau-Aufstands“ Jomo Kenyatta von 1953 bis 1960 eingesperrt. Als er wieder freigelassen wurde, gründete er die Kenya African National Union (KANU) und gewann damit bei den Wahlen drei Jahre später eine überwältigende Mehrheit. Daraufhin wurde Jomo Kenyatta Premierminister. Am 12. Dezember 1963 erhielt Kenia die volle Unabhängigkeit. (http://www.dieterwunderlich.de/kenia.htm)

Zuerst wurde das Land also fremdbestimmt und ausgebeutet, anschließend braucht es wieder Menschen vom anderen Ende der Welt, die zur Rettung kommen?
Das Konzept, europäische junge Erwachsene nach der Schule, in der man zwar viele Dinge lernt, aber nicht, wie man den Hunger auf der Welt endgültig bekämpfen kann, nach Afrika zu schicken, hat einen Beigeschmack. Die Idee stellt eine Hierarchie auf. Die Bewohner eines wirtschaftlich starken Landes haben das Privileg, nach Afrika zu reisen. Das stimmt und dem sind sich auch alle bewusst, spätestens wenn sie am Zielort ankommen. Aber was wird aus diesem Privileg und vor allem: Wie wird es präsentiert? Sollten wir uns von den Katalogideen und Slogans vormachen lassen, dass wir es zur nachhaltigen Hilfe zur Entwicklung nutzen? Die Kataloge, gefüllt mit Selfies und logobedruckten Shirts inmitten der Armut wollen von Möglichkeiten, zu helfen, berichten und wollen ihr Publikum dazu bringen, ihr Privileg dafür zu nutzen. Aber eigentlich passiert das Gegenteil: Festgeschriebene, durchgeplante Programme grenzen die Möglichkeiten ein, auf lange Sicht etwas zu verändern. Der Umfang des Programmes sieht keine nachhaltige Veränderung und neue Systeme vor, sondern Windelwechseln und Vorlesen.
Nachhaltige Hilfe entsteht aus innovativen und kreativen Ideen, bei denen sich der Umfang des Komforts oder der Unterkunft nicht ankreuzen lassen.

Ich erinnere mich noch, dass ich früher mit meinem Vater vor dem Fernseher saß und Nachrichten schaute. Es wurde ein Mann geehrt, der ein neues System entwickelte, durch das sich arme Menschen kleine Geldsummen leihen, damit ein Geschäft aufbauen und das Geld nach und nach zurückzahlen und neu investieren können. Ich war beeindruckt von der Idee, Anderen etwas Kleines zu geben, aus dem sie etwas Großes schaffen und sich auf lange Sicht besser versorgen können. Nach einiger Recherche vermute ich, dass es sich bei dieser Meldung um die Verleihung des Friedensnobelpreis 2006 an Muhammed Yunus und die von ihm entwickelte Grameen-Bank ging. (https://www.epo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=2041:muhammad-yunus-und-grameen-bank-erhalten-friedensnobelpreis&catid=50&Itemid=84)
Auch meine Gastfamilie sprach von Banken in ihrem Umfeld, die solche Möglichkeiten anbieten. Diese werden von Einheimischen gegründet und betrieben. Dadurch entstanden auch viele Arbeitsplätze. (http://kingdomsacco.com)

Wer oder was wird hier eigentlich präsentiert?

In den Katalogen der Freiwilligenorganisationen sind Fotos von schwarzen Kindern abgedruckt, die die Betrachter mit ihren großen Kinderaugen anschauen. Daneben sieht man hoch motivierte, strahlende junge Erwachsene aus Europa, die gereist sind, um ein Abenteuer zu erleben. Dann fällt ein Slogan auf der Seite, der möglichst „Auch DU kannst die Welt verändern!“ schreien soll.
Welches Bild vermittelt das Konzept, es müssen weiße Helden kommen, damit es den schwarzen Menschen dort gut gehen kann? Was würde passieren, wenn wir Kindern Bücher und Märchen vorlesen würden, die die Message „Es gibt weiße Helden auf der Welt; wenn du Glück hast, begegnest du ihnen“ trugen? Kinder würden mit einem Trugschluss aufwachsen. Nämlich, dass weiße Menschen Helden seien und schwarze Menschen retten könnten. Und, dass dieser Unterschied zwischen weißer und schwarzer Haut darüber entscheiden könnte, ob man was bewirken kann oder nicht.

Zwischen den Fotos im Katalog findet man viele Fakten, damit die Eltern auch wissen, worauf sich ihr Kind einlässt. Auslandsversicherung, Unterkünfte, Adressen und Telefonnummern von Ansprechpartnern. So wird die jugendlich-frische Energie und der Wunsch, die Welt zu verändern, von Leuten zu Geld gemacht, die längst wissen, dass der Einzelne der Reisegruppe nichts Weltbewegendes bewirken wird. Aber das sollen sie erstmal selbst herausfinden.

Das Geld der Wohlstandsgesellschaft wird an deutsche Unternehmen ausgegeben, die sich ihren Gewinn damit verdienen, jungen Menschen Reisen zu organisieren und sie an Orte zu schicken, an denen diese das Gefühl bekommen sollen, Menschen, die bedürftiger, hilfloser, ärmer und kränker als sie selbst sind, helfen zu können. Diese Hilflosigkeit der afrikanischen Kinder und ihre Abhängigkeit von anderen wird oft noch stärker inszeniert. Es gibt extra Kinderhäuser, die dafür gebaut wurden, dass Kinder, die dann ohne ihre Eltern aufwachsen müssen, von Freiwilligen der jeweiligen Organisation betreut werden. (http://www.wegweiser-freiwilligenarbeit.com/freiwilligenarbeit-mit-waisen/keine-waisenhaus-projekte/) Laut Unicef sank die Zahl der Waisen in Kambodscha zwischen 2005 und 2010 stark, während die Zahl der Waisenhäuser um 75 Prozent stieg. Viele Kinder in den Häusern hätten noch Angehörige. (https://www.zeit.de/campus/2012/04/volunteers)

Die, die Geld haben, sollen es dafür ausgeben, denen, die keines haben, zu helfen – nicht mit dem Geld, sondern mit ihrer Zeit.
Aber den Kindern und den Menschen in Afrika fehlt keine Zeit. Ihnen fehlen keine Menschen, die ihren Kindern vorlesen oder beim Malen helfen. Was ihnen fehlt ist medizinische Versorgung, sauberes Trinkwasser, Bildungsmaterialien, Sanitäranlagen, Kleidung, etc.

Die Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, wohnen nicht in behüteten Heimen. Die Menschen in hilfsbedürftigen Umgebungen sind nicht lieblos, ihnen fehlen Ressourcen. Ihnen fehlt keine Zeit, ihnen fehlt das Geld. Zeit ist nicht Geld, wenn man keinen Job hat. Einen Job kann man nicht haben, wenn keiner da ist. Ein Geschäft kann man nicht beginnen, wenn man nichts besitzt, das man zu Geld machen kann.

Freiwilligenarbeit wird als Selbstfindung verkauft

Wenn Organisationen einsehen, dass Freiwilligenarbeit letztlich nur den Freiwilligen hilft und nichts vor Ort bewirkt, wird die nächste Karte gespielt: Selbstfindung. Nach der Freiwilligenarbeit kenne man sich selbst und die Welt gut genug, um danach die schwere Frage der Berufsfindung zu beantworten. Erst durch den Abstand zur Schule, würde einem klarwerden, was wirklich wichtig sei im Leben und worauf man seinen Fokus legen wolle. Wenn man auf einem anderen Kontinent sei, einen keiner aus der Familie oder dem Bekanntenkreis mit Erwartungen und Druck begegnen könne, dann sei man endlich so ganz bei sich selbst. Mit eigenen Wünschen, Träumen, Zielen und Erwartungen an sich selbst. Das stimmt natürlich zum Teil. Ich bin selbst durch meinen Aufenthalt dort innerlich gewachsen und habe mich selbst und die Welt besser kennen gelernt. Das aber eher auf persönlicher Ebene, weniger beruflich. Es ist nicht so, als hätte ich den Schulalltag vorher nicht gekannt. An einem anderen Ort mit fremden Menschen wächst mein Erfahrungshorizont, meine Toleranz, meine Sicht auf die Welt. Aber andere Menschen bewusst dazu zu benutzen, mich selbst zu finden, wo genau diese Menschen in den meisten Fällen nicht den Luxus haben, sich erstmal selbst suchen und finden zu können, das halte ich für falsch. Sollte den Jugendlichen vorgemacht werden, sich selbst besser kennen zu lernen, reiche als Ausgangsbegründung, um in ein armes Kinderhaus zu reisen?

Ich finde es abfällig den Menschen gegenüber, denen geholfen werden soll.
Andere Menschen sind keine Instrumente für die eigene Selbstfindung.

Also besser gar nicht engagieren?

Man könnte als Fazit sehen, dass jeder in seinem Land bleiben sollte.

Aber ich spreche mich nicht gegen soziales Engagement aus, sondern gegen das Konzept, allein aus der Organisation ein Geschäft zu machen und das Geld in deutsche Bürokratie statt in Schulen oder Heime fließen zu lassen, wo es für Schulbücher oder medizinische Versorgung für die Zukunft der Kinder genutzt werden könnte. Freiwillige sollen letztlich noch nicht einmal dafür zahlen, helfen zu dürfen, sondern allein für die Illusion, sie könnten mit einem drei- oder sechsmonatigen Aufenthalt etwas an der Armut verändern.

Wir alle können auch so helfen, ohne Bestätigung einer offiziellen Organisation mit bunten T-Shirts als Andenken.
Das „typisch Deutsche“ kann auch die Idee der Freiwilligenprojekte nicht mit ins Flugzeug nehmen. Für die deutsche Kultur, das vermeintlich stets Durchgeplante und Funktionierende, gibt es kein Flugticket und sie kann nicht auf andere Länder übertragen werden. Diese Orte brauchen die deutsche Kultur auch gar nicht, denn sie haben ihre eigene.

Auch wenn sich das unromantischer anhört: Was sie brauchen ist nicht die Liebe der Touristen, was sie brauchen sind Schulbücher und medizinische Versorgung. An Liebe mangelt es dort vielleicht weniger als in Deutschland.
Die Hilfsbereitschaft von jungen Menschen sollte jedenfalls nicht ausgenutzt werden, um die deutsche Wirtschaft in den Unternehmen anzukurbeln, sondern dahingehend ermutigt werden, langfristig etwas bewirken zu wollen und zu können.

1 Comment

  • Antworten Oktober 2, 2018

    Maik

    Selten so wahre Worte gelesen. Und doch wird man wie der letzte Assi angesehen und behandelt, wenn man versucht diese Meinung weiterzugeben. Traurig diese Engstirnigkeit.

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