Am Mittwoch Abend hat in Köln das Tribunal ‚NSU-Komplex-auflösen‘ begonnen, organisiert von einem Zusammenschluss aus Initiativen und Einzelpersonen, die mit den Betroffenen der NSU-Mord- und Anschlagserie solidarisch verbunden sind. Bis Sonntag wird mithilfe von Workshops, Theaterstücken, Ausstellungen, Vorträgen, Stadtrundgängen und Open Spaces der ganze ungeheuerliche Rahmen des System, in dem der NSU seine Morde ausführen konnte, beleuchtet. Es wird über Rassismus und rechten Terror gesprochen. Es wird Anklage erhoben und Aufklärung eingefordert. Es werden viele Geschichten erzählt, die ein Gesamtbild ergeben werden und somit wird Geschichte geschrieben. Die Deutungshoheit wird nicht mehr nur den Untersuchungsausschüssen, staatlichen Institutionen und der Medienlandschaft überlassen – sie wird zurückgefordert und selbst ausgestaltet.
Eine unserer Redakteurinnen ist seit gestern vor Ort und berichtet von dem, was sie in Köln hört und erlebt.
Stadtrundgang auf den Spuren (un)überwundener Grenzen
Mein Tag beginnt mit einer dreistündigen Stadtwanderung durch Köln, vom Ebertplatz zur Keupstraße. Das Künstlerduo Birgit Auf der Lauer & Caspar Pauli hat über mehrere Jahre Gespräche mit Menschen über Migration, Flucht und Grenzerfahrungen geführt. Sie haben diese Geschichten in eine Wanderung verpackt und nutzen Köln als Kulisse, um sie zu erzählen. Dabei wird der Rhein zum Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland, ein altes Gebäude zu einem türkischen Gefängnis, eine Treppe zu einem dicht besetzten Boot.
Wir hören Geschichten über tagelange Fußmärsche, über die erniedrigende Behandlung bei den Auswahlverfahren für Gastarbeiter, über das Graben eines Tunnels, über Tricks und Kniffe eines Schleußers, über das Entdeckt-und-zurück-geschickt-Werden, über Kofferkinder und Gefängnisaufenthalte. Die Geschichten spielen in den 70er und 80er Jahren oder auch 30 Jahre später. Sie erzählen von gestern und heute und von einer Kontinuität in der Migrationsgeschichte. Für mich bleiben all diese Geschichten dennoch sehr fern – sie bleiben erzählte Geschichten.
Nur zwei davon kommen ganz nah an mich heran. Da ist die Geschichte eines Kölner Wohnviertels, in dem in einer Nacht- und Nebelaktion Häuser türkischer Migranten abgerissen wurden – begründet mit deren Baufälligkeit. Die Renovierung der Häuser war den Besitzern allerdings über Jahre hinweg untersagt worden. Die Aktion ließ sich zurück führen auf einen Antrag der CDU, die es als notwendig empfand gegen die Etablierung eines türkisch dominierten Wohnviertels vorzugehen. Ich schwanke zwischen Wut, Empörung und Traurigkeit. Ein perfektes Beispiel für die perfiden deutschen Schreibtischtäter, denen es zu jeder Zeit gelungen ist, abstruse Begründungen für Angriffe auf migrantische Lebenswelten finden. Berührend war auch der Abschluss der Wanderung – ein Freund der beiden, ein junger Afghane trägt in seiner Muttersprache und anschließend in englischer Übersetzung ein Gedicht vor. Von Birgit erfahren wir, dass er Deutschland demnächst verlassen wird, denn ihm wurde keine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Die himmelschreiende Ungerechtigkeit der deutschen Asylpolitik steht in persona vor uns.
„Wir wollen keinen Dank, wir wollen Respekt, verdammt noch mal!“
Am Nachmittag besuche ich eine Veranstaltung des Hauptprogramms des NSU-Tribunals. Sie fasst die Geschichte der „Gastarbeiter“ der BRD und „Vertragsarbeiter“ der DDR zusammen. Wir hören einen geschichtlichen Abriss von der ersten Anwerbung in den 60er Jahren, über Ausgrenzung und Rassismus in Ost und West, bis hin zu den rassistischen Anschlägen und Pogromen der 90er Jahre. Dies passiert anhand der Erzählungen und Erinnerungen von Personen aus verschiedensten Herkunftsländern, ergänzt durch Fotos und Videos. Dokumentarisch nehmen sich die beiden eingespielten Rapsongs „Fremd im eigenen Land“ von Advanced Chemistry und „Denkmal“ der Microphone Mafia aus. Die Geschichten beleuchten unterschiedliche Aspekte, bauen aufeinander auf, ergänzen sich und fügen sich so zu einem Bild. Sie stehen stellvertretend für die über 5 Millionen Menschen, die dem Ruf der deutschen Industrien gefolgt sind.Es kommen auch Angehörige der Opfer des NSU zu Wort – auch ihre Geschichten betten sich in die große Erzählung der deutschen Arbeitsmigration ein.
Ich höre viel Neues und Unbekanntes – Arbeitsmigration ist im schulischen Geschichtsunterricht kaum ein Thema gewesen. Das wenige, was ich weiß, habe ich mir angelesen – im Rahmen der Diskussionen um Integration und migrantische Parallelgesellschaften. Mir wird klar, dass ich – aufgewachsen in Sachsen – sogar mehr wusste über die Arbeitsmigration in der BRD als in der DDR. Ich höre auch warum: der ostdeutsche Staat hat die so genannten „Vertragsarbeiter“ unsichtbar gemacht, versteckt. In Ghettos und Baracken leben mussten sie allerdings in beiden deutschen Staaten. Die Deutschen wollten Arbeitskräfte, an den Menschen hatten sie kein Interesse. Das deutsche Wirtschaftswunder, auf das viele weiße Deutsche so stolz sind und mit der deutschen Tüchtigkeit in Verbindung bringen, wurde durch Gastarbeiter getragen und gestützt. Eine Geschichte, die nicht erzählt wird, weil sie das deutsche Selbstverständnis aushöhlt. Statt dessen werden Geschichten gescheiterter Integration erzählt, wird Ausgrenzung den Zugezogenen angelastet.
Aber die migrantischen Communities wehren sich dagegen. Sie leben und bleiben in Deutschland. Sie heiraten hier, bekommen Kinder, eröffnen Geschäfte, nennen Deutschland fortan ihr Zuhause. Die Deutschen reagieren mit Abwehr und Hass – in den 90er Jahren, nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten, begehen Neonazis zum Teil unter Beifall der Bevölkerung rassistische motivierte Anschläge und töten mehrere Menschen. Der deutsche Staat reagiert nicht etwa mit Härte gegenüber den Tätern, sondern mit der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl. Den Nazis und dem fremdenfeindlichen Teil der deutschen Bevölkerung wird signalisiert, dass Gewalt und Mord geeignete Mittel sind, um den Staat zum Handeln in ihrem Sinne zu zwingen.
Die „NSU-Monologe“
Der Tag endet mit einem Stück Dokumentartheater. Schauspieler der Bühne für Menschenrechte geben wortgetreu Interviews und Aussagen von vier Familienangehörigen dreier Mordopfer des NSU wieder. Es sind die Worte von Elif Kubaşık, Adile Şimşek, die beide ihren Mann verloren haben und İsmail Yozgat und seiner Frau, deren Sohn in Kassel ermordet wurde. Ich höre, wer die drei Menschen waren, die vom NSU ermordet wurden. Ich höre, welche Eigenschaften sie ausmachten, wie sie sich verliebten, was sie arbeiteten, worüber sie stritten, wie ihre Kinder hießen, dass sie geliebt wurden. Die Geschichten der drei Menschen werden parallel erzählt – alle drei stehen mitten im Leben. Was passieren wird, scheint unvorstellbar.
Aber dann höre ich von den Morden: ich höre wie Elif Kubaşık von einer Nachbarin zum Kiosk geschickt wird und wie sie dort gesagt bekommt: Ihrem Mann wurde in den Kopf geschossen. Ich höre, wie Adile Şimşek zu Hause von Polizisten vom Tod ihres Mannes erfährt, indem ihr die Frage gestellt wird, warum sie ihren Mann ermordet habe. Ich höre, wie İsmail Yozgat mit seiner Frau vom Baumarkt zurückkommt, wo sie ein Geburtstagsgeschenk für ihn gekauft hatten – um dann seinen nieder geschossenen Sohn hinterm Tresen des gemeinsam geführten Internetcafés zu finden und ihn in seinen Armen sterben zu sehen. Dann höre ich, dass Trauer unmöglich gemacht wurde – für alle Angehörigen gleichermaßen. Dass die deutsche Polizei die Familien über Wochen hinweg jeden Tag verhört, sie sogar bei den Beisetzungen in der Türkei bespitzelt, die Männer des Drogenhandels, Schmuggels, der Mitgliedschaft in einer vermeintlichen Türkenmafia verdächtigt hatte. Ich höre, wie die Angehörigen fassungslos unter dem Druck zusammen brechen oder depressiv werden, wie sich Freunde und Angehörige von ihnen abwenden.
Aber sie erzählen auch, wie sie sich zusammen schließen, gemeinsam einen Trauermarsch und eine Demonstration veranstalten, die Geschichten verknüpfen und längst verstehen, warum die geliebten Menschen ermordet wurden. Ich höre, wie sie alle immer wieder eindringlich darauf hinweisen, dass sie der Polizei mehrmals sagten, diese solle gegen Nazis ermitteln, dass es sich um Fremdenfeindlichkeit handeln müsse und wie die Polizei nur mit weiteren Verleumdungen und falschen Anschuldigungen reagierte. Ich bin längst fassungslos und mir laufen die Tränen an den Wangen herab – um mich herum weiteres Schluchzen.
Dann höre ich wie 2011 endlich die Mörder fest stehen und dass auch das sich nur kurz wie Erleichterung anfühlt. Jetzt sind zwar die Mörder bekannt und die Familien von den Verdächtigungen frei gesprochen – aber es wird schnell klar, dass diese Verbrechen nicht ohne unterstützende Strukturen möglich waren. 2012 lädt Angela Merkel die Familien zu einem Empfang und verspricht lückenlose Aufklärung – es wird deutlich wie sehr alle drei Familien an diesem Versprechen hängen, aber es heute als gebrochen werten müssen. Denn mit der Entdeckung des NSU, der Festnahme von Beate Zschäpe und dem Beginn des Prozesses gegen sie, kommen auch Aktenvernichtung, Mitwisserschaft des Verfassungsschutzes und das Ausmaß des Versagens der Polizei ans Licht. Aber die lückenlose Aufklärung bleibt aus – die Ausschüsse in den Ländern fördern kaum etwas zutage, Lügen der Zeugen im Prozess werden hingenommen, wichtige Zeugen nicht geladen. Die nächste Tür wird vor den Angehörigen zugeschlagen – es wird klar, dass sie sowohl von den deutschen Parlamenten, als auch von der deutschen Justiz allein gelassen werden. Das Stück, das eigentlich keines ist, weil es wahre Geschichten erzählt, endet mit Erzählungen vom schwierigen, aber notwendigen Weiterleben, dem ständigen Schmerz als Begleiter und der Lücke, die sich nicht mehr schließen lässt.
Mir wird klar, wie weit entfernt ich von der Lebensrealität dieser Menschen und ihrer Trauer bin. Ich habe ein Stück deutscher Geschichte gehört – einer Geschichte von Hass, Terror und Rassismus – einer Geschichte des gesellschaftlichen Versagens. Viele von uns haben das einfach ignoriert, tun es bis heute – weil wir es können. Es ist die Geschichte unseres Landes, aber wir tun so, als ginge es uns nichts an. Wir haben diese Menschen allein gelassen, ihre Geschichten klein geredet und ausgeblendet – aber sie machen sich bemerkbar und fordern ihren Platz ein. Das Tribunal ist ein wichtiger Ort gesellschaftlicher Geschichtsschreibung. Ich wünsche mir, dass jede Schulklasse dieses Stück sieht, dass es in jeder Stadt Aufführungen davon gibt und dass wir alle uns unserer Geschichte stellen und einen kollektiven Raum für den Schmerz und die Trauer schaffen, die unsere Mitmenschen mit sich tragen. Ich wünsche mir, dass wir alle verstehen, dass es unser aller Verantwortung ist, die Augen auf zu machen und alles dafür zu tun, dass sich so etwas nicht wiederholt.