Ich habe letztes Jahr einen Artikel darüber geschrieben, dass ich Grapschern auf die Fresse haue und warum ich das wärmstens weiterempfehlen kann. Im Großen und Ganzen waren die Reaktionen auf diesen Text sehr positiv. Ich bin zwei Wochen mit überheblichem Blick durch die imaginären FICKO-Redaktionsräume gesteuert und habe auf Fragen jeglicher Art nur mit einem herablassenden „Pfffff“ geantwortet. Einige Kommentare waren hingegen auch… naja, sagen wir mal, eher so mittel. Neben dem üblichen „Die-Bitch-soll-die-Fresse-halten“ und „Hat-hier-etwa-wer-Gewalt-verherrlicht!?!“ kamen Kommentare, die mir als Psychologin mit Hang zum Katastrophisieren besonders sauer aufgestoßen sind. Diese Kommentare stützen sich auf Annahmen über sexualisierte Übergriffe, die zwar weit verbreitet sind, aber schlichtweg nicht stimmen. Dazu zählen so Klassiker wie „Wenn die bitchy Klamotten trägt, selber schuld“ und „Falschbeschuldigungen sind das zentrale Problem, wenn es um sexualisierte Gewalt geht“. Da ich ziemlich ausführlich zu genau diesem Thema geforscht habe, kriege ich regelmäßig einen Fön, wenn ich sowas lese, weil beides wissenschaftlich betrachtet – surprise! – Quatsch mit Soße ist. Tonnenweise, in Jahrzehnten angehäufte sozialpsychologische Forschung zeigt, dass solche Annahmen Täter schützen und verschleiern, wie verbreitet sexualisierte Gewalt ist. Damit sind sie ein großer Teil des Problems, wie mit sexualisierter Gewalt in unserer Gesellschaft umgegangen wird. Solche Kommentare kommen dabei nicht nur von Leuten, die noch nie etwas vom Patriarchat gehört haben, sondern auch von solchen, die es eigentlich besser wissen könnten.
Feministische Ideologie: My Ass!
Deshalb starte ich eine Artikelreihe, in der ich einzelne falsche Annahmen in Bezug auf sexualisierte Gewalt und insbesondere Vergewaltigungen darstelle und anhand sozialpsychologischer Forschungsergebnisse widerlege. Das soll zum einen dazu dienen, dass die, die sich schon länger mit dem Thema befassen, wissenschaftlich belegtes Argumentationsmaterial an die Hand bekommen. Zum anderen will ich damit den Leuten, die einigermaßen cool drauf sind, aber noch nicht viel von dem Thema gehört haben, erklären, wie sexualisierte Gewalt wahrgenommen und bewertet wird und wo die eigenen Einstellungen möglicherweise eher auf sexistischen Mythen als auf Fakten beruhen. Ich werde dabei auf möglichst viele fehlerhafte Argumentationsmuster eingehen, die unter anderem darauf Bezug nehmen, dass Gegenrede „feministische Ideologie“ sei. In dieser Debatte stehen sich nämlich nicht etwa zwei unterschiedliche „Meinungen“ gegenüber, sondern falsche, sexistische Annahmen und wissenschaftlich fundierte Tatsachen (Kurz: Feministische Ideologie, MY ASS!).
Bevor ich das sozialpsychologische Studienergebnisfeuerwerk zünde, erkläre ich noch schnell zwei Grundbegriffe der Auseinandersetzung: Victim Blaming und die schon erwähnten Vergewaltigungsmythen. Hornbrillen raus, Bleistifte gespitzt, es geht los:
Sozialpsychologische Forschung beschäftigt sich wie gesagt seit Jahrzehnten mit der Frage, wie und warum Beobachter_innen den Opfern und Tätern Schuld für sexualisierte Übergriffe und Vergewaltigungen zuschreiben. Konkret geht es dabei um die Frage: In welchem Verhältnis teilen Beobachter_innen die Verantwortung auf Opfer und Täter auf, wenn es um sexualisierte Gewalt geht, und was beeinflusst diese Aufteilung von Verantwortung?
Victim Blaming und Vergewaltigungsmythen
Dabei zeigte sich ganz generell, dass den Opfern immer auch ein gewisses Maß an Schuld zugeschrieben wird (z.B. Bohner, 1998; van der Bruggen & Grubb, 2014). Dieses Phänomen wird in der sozialpsychologischen Fachliteratur als „Victim Blaming“ bezeichnet. Das bedeutet nicht, dass den Tätern keinerlei Schuld zugesprochen wird. Im Gegenteil, in Studien zeigte sich das Muster, dass Tätern in der Regel mehr Schuld zugesprochen wird als Opfern, dennoch werden letztere so gut wie immer auch beschuldigt (z.B. Strömwall, Landström, & Alfredsson, 2014). Das Ausmaß, in dem diese Schuldzuschreibung auf Täter und Opfer abläuft, ist von verschiedenen Faktoren abhängig, die ebenfalls in einem Mount Everest von Studien untersucht wurden (Anderson, Cooper, & Okamura, 1997; Grubb & Turner, 2012; van der Bruggen & Grubb, 2014). Im Wesentlichen grasen diese Studien verschiedene Vergewaltigungsmythen ab. Vergewaltigungsmythen sind gesellschaftlich verbreitete Annahmen darüber, wie sexualisierte Übergriffe ablaufen, wie sich Täter und Opfer verhalten, was Risikosituationen sind. Sie beinhalten insbesondere Aussagen darüber, wie eine „typische“ Vergewaltigung abläuft, was ihr vorangeht und was ihre Konsequenzen sind sowie was „typische“ Täter und Opfer charakterisiert (z.B. Gerger, Kley, Bohner, & Siebler, 2007; Temkin & Krahé, 2008; Vonderhaar & Carmody, 2015). Der Begriff geht auf Martha Burt zurück, die in den 1980er Jahren Vergewaltigungsmythen als „prejudicial, stereotyped, or false beliefs about rape, rape victims, and rapists“ (Burt, 1980, S. 217) beschrieb und somit die Grundlage für die Forschung zur Verbreitung und zum Einfluss falscher Annahmen über Vergewaltigungen legte.
Der typische Vergewaltiger ist nicht der unbekannte Mann im Park.
Mit diesen in Vergewaltigungsmythen angelegten Annahmen werden dann konkrete Fälle „abgeglichen“ und ein Urteil über Schuldigkeit der Beteiligten gefällt. Ein Vergewaltigungsmythos ist zum Beispiel das Bild des fremden, psychisch kranken Mannes, der im dunklen Park aus dem Gebüsch springt und eine „anständig“ gekleidete Frau anfällt und gewaltsam überwältigt (siehe hierzu: Estrich, 1987; Temkin & Krahé, 2008). Diesem Bild entsprechen tatsächlich eine verschwindend geringe Zahl von sexualisierten Übergriffen, so wird über die Hälfte aller Vergewaltigungen von Partnern und Ex-Partnern von Opfern begangen (García-Moreno u. a., 2013; Vereinte Nationen, 2010). Berichtet nun eine Frau, dass ihr Freund sie vergewaltigt hat, werden Menschen, die sehr stark der Überzeugung sind, dass Vergewaltiger immer fremde, gewalttätige Männer sind, eher davon ausgehen, dass die Frau lügt anstatt ihr zu glauben und damit die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. So zeigen Studien, dass Menschen, die Vergewaltigungsmythen stärker zustimmen auch dazu tendieren Täter zu entlasten, stärkeres Victim Blaming zu betreiben und auch die Schwere von Taten zu relativieren (z.B. Basow & Minieri, 2011, S. 491; Kopper, 1996, S. 85-90).
Mit dieser Reihe möchte ich Fakten und Zahlen liefern, die dazu beitragen, dass Leute genau das tun: Die eigenen Überzeugungen, die im Patriarchat Täter schützen und das Ausmaß des Problems mit sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen verschleiern, anhand von Fakten zu hinterfragen. Wie viele Falschbeschuldigungen gibt es eigentlich statistisch gesehen? Wie viele Vergewaltigungen werden eigentlich überhaupt angezeigt? Wieso beschuldigen sich Opfer stark selbst nachdem sie sexualisierte Gewalt erfahren haben? Auf diese Fragen werde ich Antworten geben, damit sie in Zukunft weniger anhand von Bauchgefühlen, sondern mithilfe von Wissen beantwortet werden.
Quellen:
Anderson, K. B., Cooper, H., & Okamura, L. (1997). Individual Differences and Attitudes Toward Rape: A Meta-Analytic Review. Personality and Social Psychology Bulletin, 23(3), 295–315. https://doi.org/10.1177/0146167297233008
Basow, S. A., & Minieri, A. (2011). „You Owe Me“: Effects of Date Cost, Who Pays, Participant Gender, and Rape Myth Beliefs on Perceptions of Rape. Journal of Interpersonal Violence, 26(3), 479–497. doi:10.1177/0886260510363421
Bohner, G. (1998). Vergewaltigungsmythen: sozialpsychologische Untersuchungen über täterentlastende und opferfeindliche Überzeugungen im Bereich sexueller Gewalt. Landau: Empirische Pädag. e.V.
Burt, M. R. (1980). Cultural Myths and Supports for Rape. Journal of Personality and Social Psychology, 38(2), 217–230. https://doi.org/10.1037/0022-3514.38.2.217
Estrich, S. (1987). Real Rape. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press.
García-Moreno, C., Pallitto, C., Devries, K., Stöckl, H., Watts, C., & Abrahams, N. (2013). Global and Regional Estimates of Violence against Women: Prevalence and Health Effects of Intimate Partner Violence and Non-Partner Sexual Violence. Geneva, Switzerland: World Health Organization.
Gerger, H., Kley, H., Bohner, G., & Siebler, F. (2007). The Acceptance of Modern Myths about Sexual Aggression Scale: Development and Validation in German and English. Aggressive Behavior, 33(5), 422–440. https://doi.org/10.1002/ab.20195
Grubb, A., & Turner, E. (2012). Attribution of Blame in Rape Cases: A Review of the Impact of Rape Myth Acceptance, Gender Role Conformity and Substance Use on Victim Blaming. Aggression and Violent Behavior, 17(5), 443–452. https://doi.org/10.1016/j.avb.2012.06.002
Kopper, B. A. (1996). Gender, Gender Identity, Rape Myth Acceptance, and Time of Initial Resistance on the Perception of Acquaintance Rape Blame and Avoidability. Sex Roles, 34(1–2), 81–93. doi:10.1007/BF01544797
Strömwall, L. A., Landström, S., & Alfredsson, H. (2014). Perpetrator Characteristics and Blame Attributions in a Stranger Rape Situation. The European Journal of Psychology Applied to Legal Context, 6(2), 63–67. https://doi.org/10.1016/j.ejpal.2014.06.002
Temkin, J., & Krahé, B. (2008). Sexual Assault and the Justice Gap: a Question of Attitude. Oxford ; Portland, Or: Hart.
van der Bruggen, M., & Grubb, A. (2014). A Review of the Literature Relating to Rape Victim Blaming: An Analysis of the Impact of Observer and Victim Characteristics on Attribution of Blame in Rape Cases. Aggression and Violent Behavior, 19(5), 523–531. https://doi.org/10.1016/j.avb.2014.07.008
Vereinte Nationen (Hrsg.). (2010). The World’s Women 2010: Trends and Statistics. New York, NY: United Nations.
Vonderhaar, R. L., & Carmody, D. C. (2015). There Are No „Innocent Victims“: The Influence of Just World Beliefs and Prior Victimization on Rape Myth Acceptance. Journal of Interpersonal Violence, 30(10), 1615–1632. https://doi.org/10.1177/0886260514549196
marie
Hey, wann startet denn diese angekündigte artikelreihe?
Bilke.
Hallöchen, da stellst du eine sehr gute Frage. Ich war leider nach meiner großspurigen Ankündigung im Januar so beschäftigt mit anderen Dingen, dass mittlerweile drei angefangene Artikel für die Reihe auf meiner Festplatte liegen und auf ihre Vollendung warten. Wir machen das ja alles ehrenamtlich bei FICKO, deshalb dauern manchmal Sachen viel länger, als es uns selbst lieb ist. Aber ich bin dabei und freue mich, dass du Interesse hast! Liebst, Bilke
sima
Hi, wann kommt denn die angekündigte Artikelreihe 🙂 ? Mich würde sie sehr interessieren!
Bilke.
Ahhhh Ohhhh, AHHHH! Ganz bald. Leider bin ich ziemlich viel in meinen Job eingebunden und komme deshalb grade selten dazu selber zu schreiben. Aber die Reihe liegt mir sehr am Herzen und es gibt schon zwei drei angefangene Artikel, die bald kommen soll.
Marisa
Gibt es die Reihe schon? Ich will Dich nicht stressen. Kann verstehen, dass Du nicht zum schreiben kommst. Aber bin sehr interessiert und vielleicht hast Du es ja tatsächlich schon längst geschrieben?!