FICKO-Satellit Nein zum Polizeistaat mit einem Hintergrundtext zum Vermummungsverbot bei Demonstrationen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der einseitigen Entscheidungsmacht der Polizei.
Die wackligen Bilder aus Hamburg sind verstörend: Wasserwerfer, brennende Barrikaden, Schlagstöcke und Tränengas, Flaschenregen und geplünderte Geschäfte. Sinnloser Gewalt steht eine Polizeitaktik gegenüber, die vom Grundsatz der Deeskalation Abstand genommen zu haben scheint. Unabhängig davon, wer die Gewalt bei der „Welcome To Hell“-Demo zum Auftakt der G20-Proteste initiierte, muss angesichts der vielen Verletzten stark bezweifelt werden, dass es noch im Sinne des Rechtsstaates sein kann, wenn die Polizei auf diese Art politisch auftritt.
Was bedeutet das Vermummungsverbot?
Handlungsgrundlage und Rechtfertigung war für die Polizei §17a Abs. 2 des Versammlungsgesetzes. Dieser regelt, dass es bei öffentlichen Versammlungen verboten ist „in einer Aufmachung, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern, teilzunehmen oder den Weg zu derartigen Veranstaltungen in einer solchen Aufmachung zurückzulegen“. Übersetzt: Diejenigen Demonstrationsteilnehmer, die sich mit Schals, Mützen und Sonnenbrillen unkenntlich machten, begingen formell Straftaten. Zu bestrafen mit: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.
Soweit, so gut, könnte man meinen. Und viele, die sich seit Donnerstagabend über die Gewalt der G20-Gegner*innen empören, behandeln den §17a so, als sei er ein selbstverständliches, unverzichtbares Mittel eines Rechtsstaates. Doch die Mehrheit der westlichen Demokratien kennt eine solche Regelung nicht, noch war sie immer Bestandteil des bundesdeutschen Versammlungsrechts. Ganz im Gegenteil ist dessen Geschichte von einem Widerstreit zwischen zwei weitgehend gegensätzlichen Haltungen zur Staatsgewalt geprägt: einer autoritären und einer liberalen. Bis im Jahr 1970 SPD und FDP eine Liberalisierung beschlossen, galt in Teilen noch das Versammlungsrecht des monarchisch regierten preußischen Obrigkeitsstaates. Beschlossen: 1871.
So machte sich bis dahin etwa schon des Landfriedensbruches strafbar, wer an einer Versammlung teilnahm, aus der heraus Gewalt ausgeübt wurde. Eine persönliche, direkte Tatbeteiligung musste dafür nicht vorliegen. Da sich bis Ende der 1960er Jahre etwa 6000 derartig „politisch“ Verurteilte in den Gefängnissen befanden, wurde das Versammlungsrecht der BRD liberalisiert und eine Amnestie ausgesprochen. Doch der Geist des Brandt’schen „Lasst uns mehr Demokratie wagen“ währte nicht lang: Spätestens der auch militante Widerstand gegen den Bau der Frankfurter Startbahn-West war für die Liberalen Grund, in anderer Koalition 1985 einer Wiederverschärfung des Versammlungsrechts zuzustimmen. Die Kohl-Regierung führte damit erst das sogenannte Vermummungsverbot ein. Verstöße wurden zunächst als Ordnungswidrigkeit geahndet, vier Jahre später dann generell zur Straftat hochgestuft. Aber begehen dagegen verstoßende Demonstrationsteilnehmer wirklich „schwere Straftaten“, wie der Einsatzleiter vor Ort die Vermummungen einordnete?
Wie wendet die Polizei das Vermummungsverbot an?
Wie bei allen Rechtsnormen gilt natürlich auch hier: Das Vermummungsverbot muss im konkreten Fall ausgelegt werden. So ist der Paragraph dazu gedacht, die Strafverfolgung – die ja etwa bei Landfriedensbruch, Körperverletzung oder Sachbeschädigung durchaus im Interesse der Gesellschaft liegt – zu erleichtern oder überhaupt zu ermöglichen. Dazu wurde u.a. im Zuge der Verschärfungen des Versammlungsrechts der Polizei auch das Recht eingeräumt, Video- und Tonaufzeichnungen von Demonstrationen anzufertigen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass tatsächlich Straftaten verübt werden oder dies eindeutig zu erwarten ist.
Womit wir beim eigentlichen Problem wären: Der eigenmächtigen Auslegung und Anwendung des Vermummungsverbots durch die Polizei, die eigentlich nur „Hilfsbehörde“ der Strafverfolgung ist, also der Weisung von Staatsanwaltschaften und Gerichten unterliegt. Natürlich hat ein Staat das Recht, die Identität von Straftätern festzustellen. Doch unter welchen Bedingungen und zu welchem Preis? Bei der „Welcome To Hell“-Demo war die Polizei der Auffassung, dass sie zu erwartende Straftaten nur dann verfolgen könne, wenn die vermummten Teilnehmer erkennbar würden, also ihre Schals etc. ablegten. Tatsächlich kommt der Polizei diese Abwägungsentscheidung auch zu: Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach Einsätze als verfassungskonform eingestuft, bei denen eine solche Auffassung Entscheidungsgrundlage war. Es könne im konkreten Fall auch bei Vorgängen mit Richtervorbehalt (also etwa einer Freiheitsentziehung, die eine Identitätsfeststellung u.U. erst ermöglicht) geboten sein, dass die Polizei unmittelbar aufgrund ihres eigenen Ermessens handelt.
Doch kollidieren an dieser Stelle stets mehrere Rechte miteinander. Für den Fall G20 seien nur zwei herausgegriffen: die Demonstrationsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Teilnehmer. Gleichzeitig gilt auch in solchen Fällen immer und uneingeschränkt der Grundsatz, dass staatliches Handeln verhältnismäßig sein muss.
Warum ist das problematisch?
Beim Vermummungsverbot hat sich aber offenbar eine Null-Toleranz-Taktik etabliert, was zur Folge hat, dass ihm eigentlich höherrangige Normen wie das Demonstrationsrecht untergeordnet werden. Denn auch das Bundesverfassungsgericht sagt: Eine gewaltsame Durchsetzung, wie sie in Hamburg geschah, ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Versammlung als solche nicht gefährdet wird. Dass bei gewaltsamem Einschreiten hochrangige Grundrechte gefährdet werden, ist für die Polizei aber augenscheinlich regelmäßig weniger wichtig als ihr eigener Ordnungswille.
Nach allem, was Videos und Augenzeugenberichte von den Geschehnissen um „Welcome To Hell“ nachvollziehbar machen, verübte auch der vermummte Teil der Demonstration bis zur Auflösung keine Straftaten, die auch nur ansatzweise die vehemente Durchsetzung gerechtfertigt hätten – zunächst ist sogar ein Großteil der Demonstrierenden der Auflage, die Vermummung abzulegen, gefolgt. Noch viel weniger leuchtet ein, warum eine Identitätsfeststellung möglicher Straftäter nicht auch nach dem ordentlichen Ende der Demonstration hätte stattfinden können. Durch diese Auslegung der Polizei verkommt das Vermummungsverbot zu einer Art Generalermächtigung mit Präventivcharakter: Solange die Polizei glaubt, dass Straftaten geplant seien, scheint sie auch die massenhafte Verletzung von Unbeteiligten in Kauf zu nehmen – das ziemlich genaue Gegenteil also von Verhältnismäßigkeit.
Obendrein scheinen zumindest einzelne höhere Beamte zu glauben, ihre Aufgabe für öffentliche Sicherheit zu sorgen, stelle sie auf der Straße über die Gewaltenteilung. Denn wenn die Identität einzelner gewalttätiger Beamter nicht festgestellt werden kann und der Polizei ein solch großer Ermessensspielraum eingeräumt wird, unterliegt dieser Teil der Exekutive zumindest faktisch kaum mehr der Kontrolle der Justiz. Selbst wenn ein Einsatz nachträglich für rechtswidrig erklärt würde: die Demonstration wurde verhindert. Und die Ordnungsmacht kann für sich reklamieren, Gesetzesverstöße verhindert zu haben, die vielleicht nie stattgefunden hätten.
Und jetzt?
Das Problem der polizeilichen Anwendung des Vermummungsverbotes besteht nicht erst seit Hamburg und nicht erst seit 2017. Viel an der Argumentation der Einsatzleitung erinnert an das skandalöse Vorgehen bei Blockupy 2013, als fast 1000 Menschen bis zu acht Stunden in einem Polizeikessel ausharren mussten, um ihre Personalien feststellen zu lassen. Sie hatten keine Polizisten angegriffen, sie hatten sich nicht gewalttätig gezeigt oder zu Gewalt aufgerufen. Sie hatten mehrheitlich einfach Kapuzen über- und Sonnenbrillen aufgezogen.
Man könnte darüber streiten, ob dies eine Identifikation der Person überhaupt verhindern kann (es sei erinnert: die Grundvoraussetzung für die Strafbarkeit nach Paragraf 17a VersG). Letztlich sind solche juristischen Finessen aber allen Erfahrungen nach müßig, weil die Polizei ihre Auslegung des Geschehens auf der Straße ohnehin durchsetzen kann. So ergibt sich aus der Verantwortung, die sie vor Ort zu tragen hat, nicht selten eine Machtposition, der die Polizei aufgrund ihrer Struktur nicht gewachsen sein kann.
Wenn noch hinzukommt, dass Menschen (wie in Frankfurt oder Hamburg) gegen Kapitalismus und dessen globale Auswirkungen protestieren, also die Gesellschafts- und Staatsordnung als Ganzes kritisieren, wird die Polizei bei eigenmächtigem Eingreifen nicht selten zum politischen Akteur. Dann aber erfüllt sie eine Rolle, die ihr im Grundgesetz nicht eingeräumt wird und auch niemals eingeräumt werden darf. Andernfalls hebelt die situative Pflicht zur Entscheidung der Polizei – in Verbindung mit der organisatorischen, personellen und technischen Übermacht gegenüber Demonstrierenden – die für einen Rechtsstaat zwingend erforderliche Gewaltenteilung aus.
Quellen und Lektüreempfehlungen:
Prof. Dr. Martin Kutscha: Demonstrationsfreiheit – historische Dimension und aktuelle Pläne zur Beschneidung eines unbequemen Grundrechts (Mitteilung des Verbandes Demokratischer Juristinnen und Juristen (vdj.de), 03.03.2006)
Rechtsanwalt über Polizeieinsatz – „Dolchstoß für das Grundgesetz“ (taz Online, 7. Juli 2017)
Thomas Wüppesahl (Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten) – Interview zum Polizeieinsatz bei „Welcome To Hell“ (Zeit Online, 7. Juli 2017)
„Festival der Grundrechtsverletzungen“ – Pressemitteilung anlässlich G20 des Anwaltlichen Notdienstes beim Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (rav.de, 9. Juli 2017)
Per Gesetz gegen ein Grundrecht – Eine kurze Geschichte des Demonstrationsrechts (CILIP – Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V., August 2002)
Vermummung – Schluss damit (SPIEGEL-Artikel zu den Bedenken der FDP-Fraktion bei der Verschärfung des Demonstrationsrechts, 07.12.1987)
Titelbild: BFE Frankfurt via Wikimedia Commons – CC BY-SA 3.0 DE