„Nein“, sagt Tim*. „Doch“, sagt der Mann auf der anderen Seite des Hamburger Gitters. Sie stehen auf dem Platz der Deutschen Einheit, keine zweihundert Meter entfernt wird „Dem deutschen Volke“ vom Parlamentsgebäude vorbuchstabiert. Ein Versuch des Diskurses. „Also, das ist doch ein ganz anderer Kulturkreis, das sind strukturelle Unterschiede“, sagt der namenlose Abtreibungsgegner, den Oberkörper professoral auf das Gitter gelehnt, als stehe er an einem Podium. Die Nordafrikaner – sie können ja gar nicht anders. Die Einwanderungsgesellschaft – ein Irrtum. Integration – unmöglich. Tim schluckt, dreht den Stiel der Regenbogenfahne auf seiner Schulter, setzt zur Nachfrage an. „Und was ist mit mir? Ich bin ein Kind aus einer typischen Einwanderungsfamilie. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Türke. Ich bin Deutscher.“ „Nein“, sagt der Mann nicht. Aber er erklärt Tim, warum es der kulturelle Hintergrund war, der seinen Vater dazu brachte, die Familie zu verlassen. „Er dachte sich: das ist nur eine Deutsche. Da besteht kein sozialer Druck, deshalb konnte er das machen.“ Tim hat genug, im Umdrehen blitzt der Sticker auf seiner Brust. Und wann hast du entschieden hetero zu sein? Versuch gescheitert.
Eine Gruppe Gegendemonstrant*innen tritt auf: „Kein Gott – kein Staat – kein Patriarchat“, skandieren sie. Eine zierliche Mittfünfzigerin stellt sich ihnen aus sicherer Entfernung entgegen und ruft mit sanfter Stimme. „Jesus ist trotzdem da. So kann man ihn nicht vertreiben.“ Ich stehe ratlos dazwischen. Mit wem soll ich hier reden? Ich passiere Hunderte, die auch bei der TTIP-Demo in Friedrichshain am Abend nicht auffallen würden. Ich sehe Einzelne in bayerischer Tracht, kreuzbrave katholische Jugendgruppen und nur ein paar grimmige Menschen in schwarzen Jacken, deren Poren ich Pogromstimmung atmen höre. Vor meinem inneren Auge glaube ich Lehrer*innen, Fußballspieler*innen, Postbot*innen, Dieter Bohlen-Fans und Mitglieder von Kapellen aller Art zu erkennen. Tief gläubige Menschen und solche, die hier Bündnisse schmieden wollen für den großen, neuen Sprung in die Vergangenheit. Am Zaun steht eine Abordnung von Die Partei. „Feminismus, Du Fotze“, steht auf dem Plakat. Ein Pensionär in Golfspielergarderobe kommt mit gerecktem Finger vorbei und weist mit höflicher Verachtung darauf hin, dass er sich beleidigt fühle. „Was missfällt Ihnen daran?“, versuche ich einen Gesprächseinstieg. „Die Zotigkeit.“ Hier versammelt sich zum Gutteil das etablierte Bürgertum. Ich wende mich zur Bühne.
Dem deutschen Volke. Dieses Versprechen, das in diesen Tagen manchem drohend bis zum Schwindel aufs Trommelfell drückt, greift auch Martin Lohmann auf. „Heute steht darunter: dem ungeborenen Leben.“ Der Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht (BV-L) bekommt Applaus: Sein Volk hat sich vor ihm versammelt, stimmt an jenem Ort mit den Füßen ab, der nie einfach nur ein Ort ist, wenn sich an ihm ein politisches „Wir“ zusammenfindet – ob vor den Toren oder im Plenarsaal, unter dem wohlstandsgerundeten Bundesadler. Doch wie das seit langem so ist, bei TTIP und AfD, bei Montagsmahnwachen, beim Protest gegen Gentechnik und bei der Medienkritik: Der ideologische Morast, aus dem der vermeintliche Volkswille sich reckt, ist so zäh verrührt – man mag ihn nicht mal anfassen. Heute sind da einerseits die verbalen Forderungen. „Kinder sind ein Geschenk“, „Lasst alle leben“, „Jeder Mensch ist Würde-Träger“, „‚Echte Männer‘ stehen zu ihrem Kind“, „Jedes Kind will leben“ – wenn das mal keine unverfänglichen Allgemeinplätze sind.
Andererseits sind da Auftritte wie jener von Hannelore. „Zuallererst bin ich Mutter“, spricht sie auf der Bühne aus, was der Gegenprotest bunt und wortreich kritisiert: die Reduktion der Frau auf eine Gebärfunktion. Zehn Kinder habe sie, eigene, adoptierte, auch Pflegekinder. Doch einmal habe sie abgetrieben. Die Folge: „ein zerrüttetes Verhältnis zu Gott, zu meinem Mann, zu meinen Kindern“. Sie sei Süchten verfallen – „doch Jesus war mir gefolgt und hat mich gerettet“. Nur aus einem Grund könne sie heute hier stehen. Weil sie die Selbstbestimmung aufgab: „Herr, übernimm Du das Steuer meines Lebens.“ In solch simplifizierten Ketten des Aus-A-folgt-B zeigt sich das ganze Dilemma des Marsches für das Leben: Kein Wort darüber, dass das Austragen eines Kindes katastrophale Folgen für das Leben der Mutter haben kann, keine Entscheidungsmöglichkeit der Frau. Stattdessen das Recht auf Leben als sinnstiftende Totalität. Wer hält noch weitere Beispiele aus? Da wäre etwa der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, in dessen Welt der lautstarke und friedliche Gegenprotest dieses Tages eine Gefahr ist. „Ich danke den Polizisten, die uns heute begleiten und beschützen.“ Oder sein Amtskollege Heiner Koch, Erzbischof von Berlin und Brandenburg, der Freiheit und Pluralität gleich einhegt, wenn er behauptet, die katholische Kirche sei für „ein Leben ohne Grenzen“. Da ist sie wieder, die Ideologie: Wir wissen, was richtig und gut ist, weil wir auf der richtigen Seite stehen. Da kollidiert das Recht der Mutter unter keinen Umständen mit dem Recht des Kindes, weil das Recht der Mutter nur daraus erwächst, dass sie Kinder bekommt. „Im Namen des Volkes“, wenn man so will.
Dieses eine Volk trifft außer vor dem Reichstag an diesem Tag nur einmal auf das andere. Nach den zwei Demonstrationen des Bündnisses What the Fuck?! und der Aktion Lebensrecht für Alle soll wie 2015 der Marsch blockiert werden. Das gelingt nur ein bisschen. Weil sich auf der Friedrichstraße zu viele Gegner*innen des Marsches für das Leben aufhalten, wird kurzerhand die Route geändert. Halb Berlin-Mitte ist gesperrt, die Berliner Polizei zieht ihre Politik der rigorosen Trennung energisch durch – kaum erklärliches Geschubse inklusive.
Und so stehen sich die zwei „Völker“ dann gegenüber: direkt am Bahnhof Friedrichstraße, der früheren Blockgrenze – Trennungssymbolik par excellence. „Kondome, Spirale, Linksradikale“ schallt es den mehreren tausend Schweigenden auf der anderen Seite der Spree aus vielleicht zweihundert Kehlen entgegen. Einige machen fleißig Fotos von den fremden jungen Menschen in rosa T-Shirts, die diesseits des Wassers für Party statt Petrus brüllen. Futter für die Opferrolle. „Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt Ihr uns erspart geblieben.“ Geredet wird hier nicht. Tatsachenbehauptung trifft auf Tatsachenbeschweigung.
Zurück vor dem Reichstag wird der Tag mit einem Gottesdienst beendet. Während erneut die Band Gnadensohn auftritt – Textzitat: „Kommt, erhebt unsern Herrn, er regiert“ – sammeln sich noch einmal ein paar hundert vornehmlich junge Menschen auf der anderen Seite des Zauns. Die Staatsmacht garantiert einen dutzende Meter breiten Korridor luftleeren Raums. Mehrfach werden Einzelne rabiat aus der Menge der Gegendemonstranten gezogen. Betreut von gleich zehn Beamt*innen, wird einer abgeführt, weil er eines der Kreuze ergattert hat, die vorher die Abtreibungsgegner herumgetragen haben. Eine Frauen*gruppe kommt hinzu, es laufen Sookee und Mülhelm Asozials „Bier gegen Bullen und Deutschland“ auf einem improvisierten Soundsystem. Eine tanzende Traube bildet sich.
Im irdischen Jenseits werden die Fürbitten verlesen. Für das Leben, für die Zukunft, für 400 „ermordete“ Föten pro Tag. Am Zaun treffe ich Tim wieder. Ob er den Eindruck hat, dass sein Gesprächsangebot etwas bringt? Nö. „Es ist wie bei Frauke Petry oder Beatrix von Storch, die ich auch schon kennenlernen ‚durfte‘. Es dreht sich immer um dasselbe: Das Problem sind die Nordafrikaner, die Migranten, die Schwulen, die Menschen mit anderen Lebensentwürfen.“
* Name frei erfunden