Am Sonntag, den 21. Mai 2017 ist das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ mit einem Demonstrationszug und einer Kundgebung in der Keupstraße in Köln, in der der NSU 2004 ein Nagelbombenattentat verübte, zu Ende gegangen. Ungefähr eintausend Menschen haben mit diesem Marsch noch einmal den Opfern des NSU-Komplexes gedacht und die Forderungen der Überlebenden, Betroffenen und Teilnehmer*innen des Tribunals auf die Straße und in die Welt getragen. Es war ein sichtbares Zeichen für die „Gesellschaft der Vielen“, die sich nicht vertreiben lässt – nicht durch rassistische Gesetzgebung und nicht durch Morde und Bomben – sondern die vielmehr ihre Rechte einfordert.
Mit diesem Schlusspunkt sind sehr aufrüttelnde, inhaltlich dichte und emotionale Tage zu Ende gegangen. Niemand, der das Tribunal besucht hat, wird es emotional unberührt verlassen haben. Allgegenwärtig waren die Stimmen der Überlebenden, war der Schmerz und die Trauer, die Empörung über fehlende Aufklärung und Anerkennung. Gleichzeitig war es aber auch ein Ort des Zuhörens, des Zusammenhalts, der Solidarität und des Bewusstseins und Bewusstwerdens über die eigene Wirkmächtigkeit. Das Warten auf Institutionen, auf die Politik, Medien oder den Rechtsstaat wurde eingestellt. Die Aufarbeitung und Anklage der gesellschaftlichen Missstände, die überhaupt zu den 10 Todesopfern und den vielen Verletzten führen konnten, wurde selbst in die Hand genommen – gestützt durch eine bundesweite Allianz von Betroffenen, anti-rassistischen Initiativen, Rassismus-Forscher*innen, Künstler*innen, Aktivisten und Einzelpersonen.
Am Anfang steht der „Gastarbeiter“
Das Hauptprogramm des Tribunals war über die Tage hinweg thematisch gestaffelt – mit der Verlesung der Anklage am Samstagabend als Kulminationspunkt. Am Donnerstag wurde eine geschichtliche Einordnung der NSU-Morde vorgenommen. Die Geschichte der Arbeitsmigration in beiden deutschen Staaten stand dabei im Mittelpunkt. Von Beginn an, ab 1955, wurden die Ankommenden nur als für die deutsche Industrie notwendige Arbeitskräfte betrachtet. Dass sie sich dauerhaft in Deutschland niederlassen, gar anerkannte Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft werden könnten, war nicht vorgesehen. So mussten sie zusammen in Lagern wohnen, pendelten oft nur zwischen ihrem Arbeits- und Wohnort und hatten kaum Zugang zu Aktivitäten außerhalb der Lohnarbeit. Eingesetzt wurden sie auf den gering bezahlten Stellen, bekamen oft weniger Lohn als ihre deutschen Kollegen. Somit verhalfen sie nicht nur der deutschen Nachkriegswirtschaft zu Wachstum, sondern auch ihren deutschen Kollegen zum Aufstieg innerhalb der Fabriken, weil sie deren niedrig qualifizierte Stellen übernahmen.
Als sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen änderten und die Arbeitslosigkeit anstieg, verhängte die Bundesregierung den sogenannten Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte und hoffte darauf, dass viele der Arbeiter*innen Deutschland wieder verlassen. Aber es stellte sich der gegenteilige Effekt ein. Bisher hatten sie problemlos zu ihren Familien reisen und dann wieder in Deutschland arbeiten können, aber dies war nun nicht mehr möglich. Viele holten stattdessen ihre Familien nach oder gründeten Familien, zogen in eigene Wohnungen, eröffneten Geschäfte.
Die 90er Jahre: das Klima der Straffreiheit für rassistische Gewalttaten als Geburtsstunde des NSU
Mit dem Einfordern eines eigenen Platzes in der deutschen Gesellschaft durch die Migrant*innen stiegen reaktionäre und fremdenfeindliche Ressentiments der deutschen Mehrheitsgesellschaft an. Die rassistische Spaltung wurde immer stärker und schlug sich Anfang der 90er Jahre kurz nach der deutschen Wiedervereinigung in mehreren fremdenfeindlichen Anschlägen nieder. In Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln, Solingen und an anderen Orten wurden Menschen verletzt und getötet. Im Anschluss an diese Attentate wurden diese nicht etwa durch die Mehrheitsgesellschaft, die Politik, Behörden und Gerichte als nicht hinnehmbarer Rassismus verurteilt und umfassend aufgearbeitet, sondern viele der Täter*innen wurden nie angeklagt oder kamen mit geringen Strafen davon. Gleichzeitig wurde der Asylrechtsparagraf im Grundgesetz geändert, was die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl bedeutete.
Das waren die fatalen Zeichen, die den deutschen Neonazis und der sympathisierenden Bevölkerung deutlich machten, dass sich rassistische Anschläge und Morde hierzulande auszahlen, von der Politik aufgegriffen werden und sich in der Gesetzgebung niederschlagen. In diesem Klima der Straffreiheit politisierten sich weitere Jugendliche und übernahmen die menschenfeindlichen und mörderischen Ideologien der Nazis und Neonazis. Es entstanden Kameradschaften und deutschlandweite Netzwerke von Neonazis – Netzwerke, auf die das NSU-Kern-Trio Jahre später nach seinem Untertauchen und während seiner Mordserie zurückgreifen konnte.
Der Verfassungsschutz: Strategiedebakel oder gezielter Aufbau des Rechtsterrorismus?
Als erwiesen muss heute auch angesehen werden, dass neonazistische Strukturen systematisch durch den Verfassungsschutz unterstützt und aufgebaut wurden. Durch das Anwerben von V-Männern und deren Bezahlung flossen Geld und Wissen in die Netzwerke – so konnten diese vergrößert und professionalisiert werden. In nahezu allen relevanten Neonazistrukturen waren V-Männer in den Führungspositionen vertreten, gründeten diese teilweise sogar selbst (Bsp.: Ku-Klux-Klan Baden-Württemberg). Die vom Verfassungsschutz vertretene Doktrin des absoluten Quellenschutzes brachte mit sich, dass die Neonazis, bis hin zu der Planung von Anschlägen, in dem Wissen arbeiten konnten, unter dem Deckmantel des Verfassungsschutzes zu stehen.
Das NSU-Kern-Trio profitierte von genau diesen Gegebenheiten: durch Tipps, Warnungen, Nicht-Weitergabe von Informationen und Verschleppung von Ermittlungen. Auch nach der Enttarnung des NSU-Kern-Trios im Jahre 2011 setzte sich dies unvermindert fort. In den Länder- und Bundesuntersuchungsausschüssen stellten Verfassungsschutzmitarbeiter weiterhin konsequent den Quellenschutz vor die umfassende Aufklärung: sie vernichten Akten, verschweigen, vertuschen und lügen, und verhöhnen damit Opfer und rechtsstaatliche Institutionen.
Unklar bleibt in dem Zusammenhang nur, ob die Arbeitsmethoden des Verfassungsschutzes einer Strategie folgten, die durch informelle Kontrolle „Schlimmeres“ verhindern sollte, oder ob der Auf- und Ausbau der Nazi-Strukturen gar Ziel eines selbst rechts-(extrem) geprägten Verfassungsschutzes war. Wobei sich bezüglich der ersten Möglichkeit die Frage stellt, was es denn Schlimmeres als Morde und Bombenanschläge geben könnte, das, diese in Kauf nehmend, zu verhindern gewesen wäre. Eine eindeutige Antwort wird es darauf wohl nicht geben.
Den Verdacht, dass letztere Theorie zumindest für einzelne Verfassungsschützer gilt, legt der Fall Andreas Temme nahe. Dieser hessische Verfassungsschützer und V-Mann-Führer war während des Mordes an Halit Yozgat in Kassel am Tatort, als Kunde im Internetcafé des Opfers. Er streitet aber bis heute ab, den Schuss gehört, gerochen oder den sterbenden Mann hinterm Tresen liegen gesehen zu haben. Bei einer Wohnungsdurchsuchung bei Temme wurden unter anderem Waffen, NS-Devotionalien und NS-Schriften sichergestellt. Eine neue Studie von Forensic Architecture, die den Mord im Internetcafé nachstellt, wurde am Donnerstagabend auf dem NSU-Tribunal vorgestellt. Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass Temme gelogen hat: Er muss die Schüsse gehört und gerochen haben, und es ist unmöglich, dass er Halit Yozgat nicht gesehen hat, als er beim Verlassen des Internetcafés ein 50-Cent-Stück auf den Tresen legte. Die Schlussfolgerung ist: Entweder hat er den Mord mitbekommen oder ihn selbst begangen.
Von der Politik des Hören-Wollens
Der Donnerstag des Tribunals schließt mit einer Einordnung der gehörten Informationen und einem Aufruf ab:
Auf der Mikroebene des Internetcafés kommen die komplexen Rollen und Funktionen von Handelnden des Staates zusammen, verdichten sich und werden erkennbar. Das Zusammenkommen dieser Verbindungen zwischen Mikro- und Makroebene im Internetcafé zeigt die dringliche Notwendigkeit dieser Untersuchung sowie die politische und gesellschaftliche Dimension des Tatortes. Es zeigt auch, dass es einen gesellschaftlichen Auftrag gibt. Es macht deutlich, warum das Tribunal notwendig ist und warum das Tribunal Forensic Architecture beauftragt hat. Den lauten Klang der Schüsse, die Andreas Temme nicht gehört haben will, obwohl er ein Experte für Waffen und ein Scharfschütze ist, sind trotz eines ‚Silencers‘ sehr durchdringend und unüberhörbar. Diese [Untersuchung der] Schüsse wurden vom juristischen Apparat nicht angehört. So wie auch die Zeugenaussagen der Betroffenen – besonders die der Familie Yozgat – in den letzten elf Jahren nicht gehört und immer wieder ‚gesilenced‘ wurden. […] Die Wahl zu hören oder nicht hören zu wollen ist immer eine politische Entscheidung und eine politische Positionierung und Handlung. So wie der Schalldämpfer der Ceska-Pistole die Lautstärke der Schüsse nicht wirklich unhörbar gemacht hat, haben wir den wahren Ablauf der Ereignisse nun gehört und wir sind alle Zeugen geworden. Das Tribunal fordert den Staat und die Öffentlichkeit auf, diese Schüsse zu hören.
„We are the future in the present“
Der Freitag stand unter dem Motto „We are the future in the present“ und hatte viele starke Momente. Es kamen zahlreiche antirassistische Initiativen, politische Kampagnen, Opfer- und Angehörigen-Initiativen und -Bündnisse zu Wort, die über ihre Arbeit, ihre Erfahrungen und ihre Kämpfe berichteten. Es war beeindruckend, zu sehen, wie zahlreich diese Gruppen sind, welche Arbeit sie leisten und wie sie dadurch Wissen, Veränderung und Hoffnung generieren.
Beteiligt waren Terno Drom (Interkulturelle Jugendselbstorganisation von Roma und Nichtroma in Nordrhein-Westfalen), das Jugendzentrum Planerladen e.V. aus Dortmund, Respect – Für die Rechte von Migrantinnen in der bezahlten Haushaltsarbeit, Train of Hope – Flüchtlingshilfe Dortmund, Break The Silence – Initiative in Gedenken an Oury Jalloh e.V., reclaim and remember – zum Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), die Initiative Keupstraße ist überall, die Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş, Kotti & Co – die Mietergemeinschaft am Kottbusser Tor, iwspace – international women‘s space berlin und Einzelpersonen, die sich in Politik oder Wissenschaft engagieren.
All diese Initiativen trafen sich zu einer Gesprächsrunde, um Austausch und Vernetzung voranzutreiben und dem Publikum ihre Arbeit vorzustellen. Zunächst wurden Instrumente, Methoden und Werkzeuge der einzelnen Initiativen besprochen. Beschrieben wurden unterschiedliche Kämpfe gegen Ausgrenzung und stereotype Zuschreibungen, der Umgang mit gesellschaftlichem sowie institutionellem Rassismus und der Kampf um Aufklärung rassistischer Gewalttaten. Die Methoden und Ziele der Initiativen sind sehr vielfältig und decken eine große Bandbreite an Themen und Notwendigkeiten ab. Gemeinsam ist ihnen der Wille, die Gesellschaft nicht so hinzunehmen, wie sie ist, nicht in die Ohnmachtsfalle zu tappen, sondern aktiv zu werden, zu intervenieren, einen Teil der Geschichte neu zu erzählen. Einer der Teilnehmer sagte
Wir fordern nichts mehr. Von wem sollen wir was fordern? Wir müssen das selbst machen.
Das Zauberwort heißt Solidarität
Als zentral für die Initiativen zum Gedenken an Opfer rassistischer Gewalt zeigt sich die Suche nach Aufklärung, die Organisation des Gedenkens und das Hörbarmachen der Opfer- und Angehörigenperspektiven. Auch die Umbenennung von Straßen und Plätzen nach den Namen der Opfer ist eine immer wieder geäußerte Forderung – Symbole gegen das Vergessen und für Aufklärung. In den Gesprächen wurde deutlich, dass dazu oft ein langer Atem und Mut nötig sind. Viele ziehen aber vor allen Dingen Stärke aus der Organisierung und dem gemeinsamen Kampf gegen Ungerechtigkeit. Denn es werden Erfolge erzielt.
Respect erzählen von ganz konkreten Verbesserungen für die unterstützten Frauen, wie die enge Begleitung von neu Ankommenden, das Einfordern von Rechten und Lohn, die Legalisierung des Aufenthalts, das Nachholen von Kindern. Andere Erfolge der Initiativen sind bundesweite Soli-Aktionen nach den Anschlägen von Solingen und Mölln, die Gründung neuer Initiativen nach der NSU-Enttarnung wie NSU-Watch, das Zurückdrängen rassistischer Gewalt in Dessau und das Eröffnen eines neuen Verfahrens, das auch die These des Mords an Oury Jalloh untersucht, der gemeinsam geschriebene Rap-Song eines deutschen und eines Roma-Jugendlichen nach einer Exkursion nach Auschwitz, von Jugendlichen organisierte Flashmobs, um sich selbst sichtbar zu machen und zu zeigen: “Wir sind hier!“, und natürlich auch das Stattfinden des Tribunals selbst.
Der Übergang zu den Themen Solidarität und Vernetzung ist fließend. Allein durch die Besetzung der Gesprächsrunde und die sich ähnelnden Erfahrungen wird deutlich, dass trotz unterschiedlicher Ausrichtungen alle am selben Strang ziehen. Durch den Austausch und das Zuhören hat die Vernetzung schon begonnen. Augenscheinlich wird aber auch, wie viel mehr noch erreichbar wäre, wenn es mehr Zusammenarbeit gäbe. Die Überschneidungen sind erkennbar: Alle arbeiten an einer offenen, starken Gesellschaft der Vielen. Sie streiten für eine Welt, in der für alle Platz ist und in der Gerechtigkeit keine hohle Phrase ist. Das Signal an die Zuschauer und nach außen ist klar: „Macht mit! Bringt euch ein! Wir brauchen euch.“ Das Zauberwort heißt Solidarität: Gemeinsamkeiten sehen, einen menschenfreundlichen Umgang mit Differenz, zwischen Anerkennung derselben und Überwindung von Gräben finden, sich gegenseitig stützen, füreinander einstehen und zusammen im Heute die Welt von morgen erschaffen.
„Die haben gedacht, wir waren das“ – die rassistischen Ermittlungsmethoden der Polizei
Der Samstag verdichtet das bisher Gehörte und baut thematisch die Brücke zum NSU-Komplex. Am Nachmittag wird in der Veranstaltung „Der Anschlag nach dem Anschlag – Behörden und Medien gegen die Opfer“ die Rolle von Institutionen und Medienlandschaft im NSU-Komplex beleuchtet. Eine ganz besonders unrühmliche Rolle nimmt die Polizei mit ihrer Ermittlungsarbeit ein. In ganz Deutschland folgt sie dem gleichen Schema: Ermittlungen gibt es einzig und allein im Umfeld der Opfer und in der migrantischen Community. Die Hinweise auf fremdenfeindliche Täter werden übergangen und zurückgewiesen. Eine Vielzahl an Stimmen erzählt die immer gleiche Geschichte von Verdächtigungen, Schikanen, von zermürbenden Verhören, von beginnendem Selbstzweifel und gebrochenen Menschen. Die Polizei betreibt eine klassische Täter-Opfer-Umkehr, die die trauernden Menschen ihrer Erinnerung beraubt und heilende Trauerarbeit unmöglich macht. Das gesamte Ausmaß der Zumutungen und der psychischen Gewalt ist nur zu begreifen, wenn man sich die Worte der Menschen anhört:
Die, die uns Beileid wünschten, wurden überprüft.“ – „Ich hab mich gefühlt, wie ein Verbrecher.“ – „Hattet ihr Streit? Ist das euer Ehrenkodex?“ – „Bis in die Türkei haben sie es verfolgt.“ – „Hatten Sie Eheprobleme? Hatte Ihr Mann eine Geliebte?“ – „Wir kamen zurück und die komplette Wohnung war versiegelt.“ – „Jedes Mal Fingerabdrücke und Speichel!“ – „In unserer Naivität haben wir alles hingenommen.“ – „Hatten die Turguts Feinde? Gab es einen Anlass für Blutrache?“ – „Die deutsche Polizei hat unsere gesamte Familie verdächtigt und verleumdet.“ – „Selbst die Dönerspieße hat die Polizei auf Drogen untersucht.“ – „Die Fragen passten nicht zu ihm. Sind Sie sicher, dass Sie von meinem Vater reden?“ Die 10-jährige Tochter von Habil Kiliç fragt, als sie bei einem Verhör zur DNA-Entnahme gebracht werden soll: „Glauben die, dass ich meinen Papa umgebracht habe?“ – „Dann haben sie versucht, es Gamze unterzuschieben.“ – „War Ihre Tochter jemandem versprochen?“ – „Die haben wahrscheinlich gehofft, genau sowas rauszufinden.“ – „Das war die Mordkommission. Nett können Sie vergessen.“ – „Ich weiß nicht, ob sie heute immer noch abhören.“ – „Sie haben mir nicht erlaubt, ihn nochmal zu sehen.“ – „Die Blutlache war nach drei Wochen immer noch da. Ich und meine Frau haben kniend mit Spachteln sein Blut abgekratzt. Unsere Tränen haben sein Blut aufgeweicht.
„Dem behördlichen Angriff nach dem Anschlag ist keiner entkommen.“
Mit den Verdächtigungen durch die Polizei geht auch eine gesellschaftliche Stigmatisierung einher:
Gute Leute verdienen so einen Mord nicht.“ – „Jeder hat gedacht, da ist was dran.“ – „Irgendwann fing ich auch an, herumzuspinnen.“ – „Wenn alle dir das einreden, kommst du irgendwann selbst ins Grübeln.
In der Keupstraße wurde versucht, einen Konflikt zwischen Kurden und nicht-kurdischen Türken als Tatmotiv herbeizuermitteln. Kurdische Wohnungen wurden gestürmt und durchsucht.
Es haftete das Stigma der Verdächtigungen an uns. Freundschaften zerbrachen. Viele dachten: Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein.“ – „Die Leute haben langsam die Verdächtigungen der Polizei übernommen. Wir lebten ständig unter Druck. Vor der Bombe haben wir das nicht erlebt. Wir glauben, dass sie uns durch Druck vertreiben wollten.“ – „Wir haben diese dreckige Straße in eine Straße voller Läden verwandelt. Wir leben nicht vom Staat. Wir arbeiten und zahlen unsere Steuern.“ – „Man fängt an, sich selbst schuldig zu fühlen.“ – „Wir wurden stigmatisiert auf so eine brutale Art und Weise, da war ein Weiterleben hier nicht mehr möglich.“ – „Zu den Verdächtigungen der Polizei kamen die aus dem Umfeld. Und dann 2011 war plötzlich alles anders.“ – „Wie soll man sich heimisch fühlen in einem Land, in dem jahrelang die Mörder des Vaters nicht gesucht werden?
„Wir hatten keine andere Erklärung, aber keiner hat uns geglaubt.“
Eines der großen Fragezeichen der Familien ist, ob einige der Opfer heute noch leben könnten. Bei mehreren Attentaten wurden zwei blonde Männer am Tatort gesehen. Nie wurde diesen Hinweisen nachgegangen. Nach Bekanntwerden des dritten Mordes war sich Familie Şimşek, deren Ehemann und Vater das erste Mordopfer war, sicher, dass es rechte Mörder waren. Ihr Wissen, wie das der anderen Betroffenen, wurde nicht ernst genommen. Hätten die nachfolgenden Taten verhindert werden können? Fehlte die Möglichkeit zur Aufklärung oder der Wille? Der Schmerz, der in diesen Fragen steckt, ist im Raum förmlich spürbar.
Am Anfang hab ich der Polizei vertraut.“ – „Wenn die Ermittler uns sagten, rechtsextreme Motive könnten ausgeschlossen werden, dann haben wir ihnen geglaubt. Heute ist mir klar: Wir haben uns zu leicht abspeisen lassen.“ – „Auf unsere Hinweise ist nie jemand eingegangen.“ – „So eine schreckliche Tat konnte nur von Neonazis begangen worden sein.“ – „Dreimal habe ich es gesagt: Nazis, ermittelt gegen Nazis.“ – „Es waren ausländerfeindliche Leute.“ – „Das waren Junkies oder Nazis. Die Polizisten haben nur ‚Junkies‘ aufgenommen, nicht ‚Nazis‘.“ – „Sechs Jahre lang habe ich selbst die Mörder gesucht. Mein Herz stand einfach nicht still.
In nur einer Stunde, gefüllt von Stimmen und Perspektiven der Betroffenen, werden klare Muster erkennbar: offene Ressentiments und ausgelebte Stereotype gegen Migrant*innen haben die Ermittlungsarbeit wie ein roter Faden durchzogen und müssen als das benannt werden, was sie sind: institutioneller Rassismus.
Die bürgerlichen Medien als Wegbereiter für Neonazis
In diesen Kanon der Ermittlungsbehörden stimmten Journalist*innen, Redaktionen und Medienschaffende in weiten Teilen mit ein. Ihrer journalistischen Pflicht zu umfassender, objektiver und kritischer Berichterstattung kamen und kommen sie bis heute nicht nach. Vielmehr machten sie sich zum Sprachrohr von Ermittlungsbehörden, übernahmen unhinterfragt das Narrativ des „kriminellen migrantischen Milieus“ und der „Parallelgesellschaften“. Sie schufen selbst den abwertenden und faktisch falschen Begriff der „Dönermorde“.
Da, wo Ermittler nicht hinhörten und die Hinweise nicht aufnehmen wollten, hätten die Medienschaffenden durch investigativen Journalismus eine Lücke schließen können. Aber sie nahmen den Faden nicht auf, sondern wirkten daran mit, das Motiv Rassismus zu unterschlagen. Damit machten sie sich der Verfestigung und Reproduktion rassistischer Zuschreibungen mitschuldig und leisteten ihren Teil zur Verhinderung von Aufklärung – einer Aufklärung, die in letzter Konsequenz hätte Menschenleben retten können.
Gavriil Voulgaridis, dessen Bruder 2005 in seinem Schlüsselladen in München erschossen wurde, wird besonders deutlich:
Die Mörder konnten sich durch die Berichterstattung in Sicherheit wiegen. Ich habe nie dieses jahrelange, dauerhafte Demolieren von Familien und Angehörigen erlebt in den 40 Jahren in diesem Land. Die haben uns durch die gesamte Kloake Deutschlands gezogen. Ich habe kein Vertrauen mehr. Ich lasse keinen Journalisten mehr an mich heran.
Auf die Frage, was er sich gewünscht hätte, antwortet er, dass die Berichterstattung näher an der Wahrheit hätte bleiben sollen und mit mehr Sensibilität hätte vorgegangen werden sollen. Das sind bescheidene Forderungen. Er wiederholt, was ihm auf dem Herzen liegt und ihn augenscheinlich zutiefst geprägt hat: „Jahrelang haben die uns nieder gemacht. Keine Entschuldigung, nichts Positives. Ich werde das nie vergessen, was die mit unseren Familien gemacht haben.“
„Rassistische Stereotype haben uns den Blick verstellt“
Im Anschluss kommt Heike Kleffner, Journalistin und Rechtsextremismusexpertin, zu Wort. Seit 2000 gibt sie zusammen mit anderen Journalist*innen eine Dokumentation der Todesopfer rechtsextremer Gewalt heraus. In dieser werden auch Verdachtsfälle aufgelistet werden, bei denen nicht klar nachweisbar ist, ob es sich um rechtsextreme Taten handelt. Bis zur Enttarnung des NSU-Kern-Trios 2011 wurde diese Dokumentation mehrmals neu aufgelegt – keines der Opfer des NSU wurde bis dahin gelistet. Schon 2013 erklärte Heike Kleffner im Artikel „Wir haben versagt“, wo ihrer Meinung nach die Gründe dafür liegen, dass sie bei ihren Recherchen die Mordopfer des NSU übersehen haben. Damit ist sie eine der Wenigen ihrer Zunft, die öffentlich ihre Rolle im kollektiven Versagen bei der Aufklärung der Mordserie anerkannt haben.
Auch hier im Tribunal erklärt sie offen, was sie Jahre zuvor schon geschrieben hatte: „Weil wir auch rassistische Stereotype hatten und haben und weil auch diese Stereotype uns den Blick verstellt haben.“ Daraufhin passiert etwas sehr Bewegendes. Gavriil Voulgaridis, der zuvor erklärt hatte, er würde mit keinem Journalisten mehr sprechen, richtet eine Frage an sie: „Was hat Sie gebremst? Sie sind doch freie Journalistin.“ Die Antwort ist ebenso hart wie ehrlich:
Wir haben rechten Terror in der Zeit immer im Osten verortet, das hat uns den Blick verstellt. Wir haben auch unsere türkischen Kollegen nicht gefragt. Der Blick deutscher Journalisten auf die migrantische Community ist von unseren eigenen Vorurteilen geprägt, nicht vom Vertrauen in ihr Wissen.
Von großen Gesten und leeren Versprechungen
Kurz bevor ab 20 Uhr die Anklageschrift verlesen wird, das Herzstück des Tribunals, auf das alle vorherigen Veranstaltungen hingearbeitet haben, wird noch einmal das Thema Aufklärung aufgegriffen. Der Name der Veranstaltung „Das Aufklärungsversprechen, der Prozess und andere Inszenierungen“ sagt im Grunde schon viel aus. Es geht um das Versprechen, das Bundeskanzlerin Angela Merkel 2012 in ihrer Trauerrede bei der offiziellen Gedenkfeier in Berlin gegeben hat:
„Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck. Das ist wichtig genug, es würde aber noch nicht reichen. Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann.“
Auf diese Rede beziehen sich die Betroffenen immer wieder. Sie hatten die Trauerfeier und die Rede als sehr starkes Signal gewertet, aber haben über die letzten Jahre ihr Vertrauen in die Ernsthaftigkeit des Versprechens verloren. Mittlerweile sehen sie es als gebrochen an. Die weiterhin stattfindenden Gedenkfeiern empfinden sie als Farce und haben das Gefühl, die Rolle von Statisten zugewiesen bekommen zu haben.
„Zwei Dummköpfe nur sollen das gemacht haben?“
Ähnlich verhält es sich mit dem Prozess gegen Beate Zschäpe und einige der Unterstützer des NSU-Kern-Trios vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München. Eine wirkliche Aufklärung wird auch von hier nicht mehr erwartet. Schon die Klageschrift ist viel zu eng gefasst, reduziert sie doch die Taten auf Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe und ein enges Unterstützernetzwerk und blendet das weiter verzweigte, bis in den Verfassungsschutz reichende Netzwerk und das damit einhergehende behördliche Versagen systematisch aus. Viele der Angehörigen und Betroffenen bringen es nicht mehr über sich, dem Prozess beizuwohnen.
Auch die mittlerweile 13 Untersuchungsausschüsse glänzen viel zu oft nur damit, dass sie Verfassungsschützern eine Bühne bieten für deren nichtssagende Auftritte, die geprägt sind von Verachtung für demokratische Kontrolle. Einige der Ausschüsse haben zwar tatsächlich wichtige Informationen an die Öffentlichkeit gebracht, allen voran der in Thüringen und die beiden Ausschüsse des Bundes. Allerdings fehlt eine Umsetzung der von den Ausschüssen erarbeiteten Forderungen. Statt die richtigen Konsequenzen zu ziehen, gehen die Verfassungsschutzbehörden mit erweiterten Kompetenzen und finanziellen Mitteln aus dem Skandal hervor. Am Ende steht die Einsicht, dass parlamentarische und juristische Aufklärung gesellschaftlichen und medialen Druck benötigt, dass sie zäh errungen werden muss und dass der Kampf darum noch lange nicht vorbei ist.
„Wir klagen an!“
Nun ist es Zeit für den letzten Kraftakt. Zunächst spricht Ibrahim Arslan ein paar Worte, der den Brandanschlag in Mölln 1992 knapp überlebte, aber drei Familienangehörige dabei verlor, und der in den letzten Jahren Vernetzungs- und Unterstützungsarbeit für und mit anderen von rassistischen Anschlägen Betroffenen leistete. Auch Melek Bektaş, die Mutter des 2012 auf offener Straße ermordeten Burak Bektaş spricht zum Publikum – ebenso der Bruder des 2016 in Hamburger U-Haft verstorbenen Jaja Diabi. Auch Arif Sagdic, ein Ladenbesitzer in der Keupstraße, und Faruk Arslan, der Vater von Ibrahim Arslan, kommen zu Wort. Sie äußern, wie wichtig das Tribunal für sie ist – als Ort der Solidarität und Aufarbeitung.
„Das Tribunal und die Menschen sind die Kraft, die wir gebraucht haben.“ – „Bleibt dabei und helft uns, zusammen Rassismus auszumerzen. Ihr seid hier, ihr habt euch gekümmert. Dafür danke ich euch.“
In den nächsten zwei Stunden wird die sorgfältig ausgearbeitete Anklageschrift verlesen. In der Einleitung heißt es:
„Diese Anklage ist das Ergebnis unserer Anstrengungen, den NSU-Komplex und seine Akteur*innen sichtbar zu machen. Sie steht im bewussten Widerspruch zur strafrechtlichen Anklage der Bundesanwaltschaft, die den NSU als Werk einiger Weniger verharmlost. […] Sie speist sich aus dem Wissen und den Berichten der Betroffenen, aus journalistischen Recherchen, aus Medienanalysen, Protokollen und Recherchen von NSU-Watch, antifaschistischen Recherchen, aus den Ermittlungen der Nebenklage im NSU-Prozess und den Protokollen und Abschlussberichten der Untersuchungsausschüsse.
Wir klagen sowohl die Ermöglichungsbedingungen als auch die Verantwortung einzelner Personen im NSU-Komplex an – weil beides nicht voneinander zu trennen ist. Der NSU-Komplex geht über die individuelle Täterschaft bei den Morden und Bombenanschlägen weit hinaus; gleichwohl kann sich niemand hinter abstrakten Strukturen verstecken.
Wir klagen diejenigen an, die Leben, Familien und Existenzen zerstört haben. Wir klagen die Unterstützung dieser Taten an, das Netzwerk dahinter, und wir klagen die Mitwisserschaft an. Wir klagen jene an, die den NSU-Komplex in vielfältiger Weise gebilligt, gefördert und flankiert haben. Wir klagen die an, die ein Auge zugedrückt haben, die untätig geblieben sind und die stillschweigend ihr Einverständnis erteilt haben. Wir klagen die Nazis an, die Menschen ermordeten und verletzten, die Beamt*innen, die die Angehörigen und Opfer gedemütigt, eingeschüchtert und kriminalisiert haben, die Journalist*innen, die von düsteren Parallelwelten fabulierten, die Agent*innen in den geheimen Diensten, die das Morden der Nazi-Zellen bewirtschaftet haben und die die Spuren dieses Zusammenwirken, das präziser Kollusion heißen muss, bis heute akribisch verwischen. Zusammen bilden sie den NSU-Komplex, wie wir ihn verstehen. Damit lenken wir den Blick auf jene, die sich nicht vor dem OLG München verantworten müssen.
In neun Kapiteln wird die bestehende Datenlage in all ihrer Komplexität, aber auch Klarheit, zusammengefasst. Es werden auf dreiundsechzig Seiten Namen, Funktionen, Institutionen und Handlungen benannt, die einen Teil des NSU-Komplexes ausmachen.
Damit hat das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ etwas geschafft und erschaffen, was weder Politik noch Behörden oder Medien vermocht haben. Diese Anklageschrift kann zum heutigen Zeitpunkt mit Fug und Recht als das aktuellste und vollständigste Werk für das Verstehen des NSU-Komplexes gelten. Es sollte zur Information und Weiterbildung genutzt und in Schulen, Universitäten und Lesekreisen verbreitet werden.
Die Anklage wurde der Öffentlichkeit übergeben. Diese muss sie nun nutzen und ihrerseits Konsequenzen ziehen, an der weiteren Aufklärung mitwirken und diese einfordern, sodass irgendwann abschließend Urteile gesprochen werden können. Selbst wenn diese nur durch die Zivilgesellschaft gesprochen werden sollten und nicht durch rechtsstaatliche Instanzen, so werden wir doch alle der Gerechtigkeit damit ein großes Stück näher gekommen sein.