Charlie Hebdo – Breaking the circle 2015

Nachdem am 7.1.2015 in Paris islamistische Terroristen in der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und in einem jüdischen Supermarkt ein Massaker angerichtet hatten, freuten sich darüber sowohl Islamisten wie auch Nazis, die sich nun ein weiteres Mal gegenseitig die Bälle zuspielen konnten. Um dem Teufelskreis etwas entgegenzusetzen, wurde in Mainz von Arvid und Raphi eine Demo unter dem Motto „Breaking the circle“ organisiert. Hier ist mein Redebeitrag mit gutmenschlichen Grundsatzüberlegungen zum Wert eines Minimal-Wir in unserer Gesellschaft:

Weil der Sound nicht so super ist, ist hier auch noch der Text:
„Vor fast genau vier Jahren, am 2. Januar 2011 haben wir mit vielen Leuten in Mainz gegen Thilo Sarrazin demonstriert, der damals von dem Fasnachtsverein Ranzengarde eingeladen als hoher Gast die Laudatio bei der Verleihung irgendeines egalen Preises halten sollte.

Sarrazin sagte in seinem ersten Buch und den etlichen Interviews, dass Deutschland überrannt wird und sich nicht wehrt, sich selbst abschafft durch die angeblich so hohe Geburtenrate der angeblich so minderwertigen Muslime, die für ihn nicht deutsch sein können. Und 1,5 Millionen Leute haben es gekauft. Der Mann war in allen Talkshows, von Spiegel bis zur BILD hat er Kampagnen bekommen. Für mich war das ein Kulturbruch, ich habe wirklich gedacht, dass so etwas in Deutschland nicht mehr möglich ist. Aber ich habe mich getäuscht.
Mittlerweile ist aus den Ideen Sarrazins spätestens mit Pegida ein Straßenmob geworden, ein Haufen von Menschen voller Hass auf alles mögliche, das als Projektionsfläche für das Gefühl des eigenen Versagens herhalten muss. Seien es Refugees, seien es Journalisten, seien es die Forderungen nach gleichen Rechten für alle und nicht nur für vermeintlich urdeutsche Männer. Es gab 2014 so viele Anschläge und Angriffe auf Flüchtlingslager wie seit Anfang der 90er nicht mehr. Horst Seehofer, Ministerpräsident von Bayern sagte 2010, dass er sich gegen die sogenannte „Einwanderung in die Sozialsysteme“ „bis zur letzten Patrone“ wehren wolle. Diesen Aufruf haben ein paar Leute gehört und als Ansporn genommen, ihn umzusetzen.

Ich könnte jetzt ewig weitermachen und unzählige Fälle und Beispiele von Oury Jalloh über Racial Profiling bis zur Asylgesetzgebung erzählen, so viel Zeit ist aber gar nicht. Die ISD, Pro Asyl und etliche weiterer Gruppen und Vereine leisten dazu hervorragende Bildungsarbeit.
Ich will lieber ein wenig zu einer Perspektive beitragen, die vielleicht etwas bewirken kann.
Es braucht ein Wir. Ein bewegliches Wir, ein explizit konstruiertes, ein erfundenes, leichtes Wir, das auch die Unterschiede zwischen uns Menschen nicht verschweigt, sondern als großen Gewinn anerkennt. Kein Wir, das auf völkischem Boden steht, ein schlicht pragmatisches, nichtfaschistisches Wir. Wie z.B. ein Wir all dieser Leute, die heute Abend gekommen sind und laut und deutlich zeigen wollen, dass sie keine Lust auf noch mehr Zerfall und Spaltung der Gesellschaft haben. Denn diese Spaltung ist schon groß genug und wir tun immer noch viel zu wenig, um ihr entgegenzuwirken.

Ein Wir erlaubt es uns, auch mal harte Debatten auszutragen, weil das verbindende Wir eben dieser Ausschließung von ganzen Gruppen, dieser üblen Polarisierung entgegenwirkt. Und die Diskussionen werden sehr hart werden, da könnt ihr euch drauf verlassen. Deutschland ist im Bezug auf Diskussionen um Rassismus und Ausgrenzung von gesellschaftlichen Minderheiten immer noch auf niedrigstem Niveau. Als am 11. März 2014 in Mainz am Hauptbahnhof ein Schwarzer unter allen rassistischen Beschimpfungen, die ihr euch vorstellen könnt, fast getötet worden wäre, haben Polizei und Staatsanwaltschaft dennoch bis heute keinen Rassismus erkennen wollen. Die Firma Neger kann ja meinetwegen nichts für ihren Namen, aber hat ein unfassbar rassistisches Logo, das Schwarzen in Mainz ziemlich unverblümt sagt, dass sie hier nicht willkommen sind oder zumindest nur als minderwertig angesehen werden. Das ZDF bzw. das Team bei Wetten dass…!? hat nicht einmal genug Rückgrat, sich zum Blackfacing zu äußern, das Ende 2013 in der Saalwette stattfand. Nicht, dass es nicht noch viel schlimmere Vorfälle geben würde, aber es zeigt doch, dass das Niveau von Debatten über Rassismus auf einem lächerlich niedrigen Niveau ist. Deutschland ist ein Entwicklungsland, was das angeht.
Denn sonst käme niemand auf die hirnrissige Idee, Toleranzwochen zu veranstalten und diese, wie die ARD-Themenwoche mit Werbeplakaten zu bebildern, auf denen ein Mann, der unsere Toleranz wohl durch seine Hautfarbe herausfordern soll, ein homosexuelles weißes männliches Pärchen, ein schreiendes Mädchen und ein Mann im Rollstuhl zu sehen sind? Toleranz heißt Aushalten, ertragen. Ist Deutschland wirklich noch auf dem Level, Menschen im Rollstuhl aushalten zu müssen? Muss man in Deutschland als Schwarzer oder als Homosexueller ertragen werden? Diese Botschaft wird hiermit nämlich gesendet.
Ich bin froh, dass hier heute so eine große Menge von Leuten auf die Straße gegangen ist. Denn das heißt, dass es eine Bereitschaft gibt, etwas zu tun. Aber wir sollten uns auch fragen, ob wir uns eigentlich mit dem NSU auch so intensiv auseinandergesetzt haben wie mit dem islamistischen Terroristen. Könnt ihr euch vorstellen, dass, wäre der NSU eine islamistische Terrorgruppe gewesen, der hessische Verfassungsschutz das Anwaltshonorar für einen Verdächtigen zahlt, der im Prozess aussagt? Dass Akten geschreddert würden, dutzende sehr seltsame Fälle von „Versagen“ zusammengekommen wären, dass statt von Dönermorden von Kartoffelmorden geschrieben worden wäre?
Eben, genausowenig wie ich könnt ihr das wahrscheinlich.

Die Jugendlichen, die aus Dinslaken oder Frankfurt oder vielleicht ja auch aus Mainz nach Syrien gehen, um dort von skrupellosen Verbrechern in einem angeblich heiligen Krieg verheizt zu werden, fühlen sich in den meisten Fällen in Deutschland nicht akzeptiert. Ihnen wurde, siehe Sarrazin, permanent gesagt, dass sie nicht dazugehören. Dass sie keine Deutschen sind, dass sie draußen bleiben müssen. Sie kommen gern mal nicht in Clubs, sie finden viel schwerer eine Wohnung oder eine Einladung zum Bewerbungsgespräch, werden häufiger von der Polizei kontrolliert, sind generell verdächtig uvm. Das nennt man strukturellen Rassismus. Den gibt es, dazu gibt es Studien, damit kann man sich auseinandersetzen.
Und dann haben es Salafistenprediger wie Pierre Vogel oder antisemitische Hetzseiten wie Killuminati sehr leicht, diesen orientierungslosen Jugendlichen eine vermeintlich klare Weltsicht zu liefern. Ich will auf gar keinen Fall sagen, dass es nicht auch eine sehr laute Minderheit muslimischer Gläubiger gibt, die keine freiheitliche Gesellschaft zum Ziel hat. Und zu diesem Thema werden wir auch sehr sehr harte Debatten führen müssen, besser gestern als heute. Das muss auch laut werden und es wäre wichtig, dass sich daran so viele Musliminnen und Muslime wie möglich beteiligen, da sonst nur die polarisierten Extreme zu hören sind. Ich bin aber kein Muslim, ich will nicht stellvertretend für die sprechen, die es sind.

Streit ist wichtig. Es muss auch mal laut zugehen dürfen und dann knallen eben die Türen, solange man immerhin noch miteinander redet. Es ist eine zivilisatorische Errungenschaft, einen ruhig auch sehr harten Streit nicht mit Raketenwerfern auszutragen. Diese demokratischen Werte werden aber leider auch von „uns“ mit Füßen getreten. Von allen, die nicht widersprechen, wenn Heckler & Koch nach Mexiko Waffen exportiert, wenn Siemens Überwachungstechnik in den Iran liefert, wenn aus Düsseldorf die Schlagstöcke für die türkische Polizei kommen. Daher gilt es, alle zurückzuweisen, die keine Auseinandersetzung mit zivilen Mitteln führen wollen.

Mit Kalashnikovs in die Redaktion einer Satirezeitung zu gehen und kaltblütig zu morden ist nämlich kein Gespräch, es ist schlicht Mord. Einen Supermarkt für koscheres Essen zu überfallen, um Juden zu töten ist keine Teilnahme an Kommunikation. Wer so handelt oder solche Taten rechtfertigt, schließt sich selbst aus dem Kreis der am Gespräch Teilhabenden aus. Wer nun zuerst mal besprechen möchte, was die Karikaturisten alles falsch gemacht hätten, betreibt eine unzulässige Umkehr von Tätern und Opfern. Die Diskussion darüber muss aber dennoch folgen können, nur vielleicht nicht an erster Stelle. Lassen wir uns dennoch eben nicht trennen in äußerliche Gruppenzugehörigkeit, die meisten Opfer von islamistischem Terror weltweit sind Muslime. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der es zwar ein Wir gibt, die aber eben auch ein Ich zulässt. Ohne die individuelle Anerkennung des Werts eines jeden unterschiedlichen Menschen kann es kein Wir geben.

Leider sind wir in Deutschland aber offenbar noch nicht auf einem Stadium der Zivilisiertheit angekommen, in welchem erkannt wird, dass ein Thilo Sarrazin und alle Leute, die ihn unterstützen, von der BILD-Zeitung bis zum Mainzer Fasnachtsverein genauso zur Zerstörung jeglicher Grundlage eines solchen Wir beitragen. Wir sind nicht verantwortlich für die Morde. Aber wir sind verantwortlich für die Gesellschaft, in der so etwas geschieht, in der sich solch eine Spaltung auftut.
Das müssen wir ändern. Am Donnerstag eröffnet in der Wormser Straße in ein neues Flüchtlingslager mit 300 Personen. Lasst uns den dortigen Bewohnerinnen und Bewohnern zeigen, dass nicht der Geist von Sarrazin, Pegida und NSU hierzulande das Sagen hat, sondern noch viel mehr Leute sie willkommen heißen. Wir brauchen nicht noch mehr Absichtserklärungen, die bei von Naziangriffen Betroffenen gar nicht ankommen. Wir müssen die konkrete Arbeit machen. Lasst uns anfangen.“

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  • […] bringen Menschen zusammen, führen hitzige Diskussionen über allerlei gutmenschliche Themen, organisieren Demos, Partys und Festivals, greifen ein, positionieren uns und arbeiten an einer besseren Welt. […]

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