Meine erste Begegnung mit ihm hatte ich etwa ein Jahr vor besagtem Vorfall. Die Stadt und meinen Namen, genauso wie einen Hinweis auf seine Identität, werde ich nicht nennen. Ich habe erst vor kurzem begonnen die Tat als das anzusehen was sie tatsächlich war: ein sexueller Übergriff und muss zugeben, dass ich ihn aus Angst vor der Reaktion unseres Umfeldes niemals konfrontiert habe. Falls ich mich doch jemals dazu entscheiden sollte mit ihm darüber zu sprechen möchte ich dies persönlich tun. Das erste Mal getroffen haben wir uns auf einer kleinen Gegendemonstration Anfang 2016. Wir verstanden uns gut, unterhielten uns eine ganze Weile, vergaßen aber im Chaos der folgenden Blockade Nummern zu tauschen. Ein paar Monate später trafen wir uns zufällig auf einem offenen Vernetzungsabend wieder. Wir freundeten uns schnell an, was für mich sehr ungewöhnlich ist, da ich unter massiven Bindungsängsten leide, sowohl im Bezug auf Beziehungen als auch auf Freundschaften. Er zog mich in seinen Bann, seine Musik, seine Reden, seine Radikalität, seine Extreme. Alles, aber besonders unsere gemeinsame Zeit, auch wenn sie manchmal knapp bemessen war, erschien mir ein einziger Rausch zu sein. Wir verbrachten Nächte draußen und redeten, wenn er krank war versorgte ich ihn. Ich sah ihn als großen Bruder, Familie, jemand, dem ich bedingungslos vertraute.
An jenem Abend kamen wir früh morgens von einer Party zurück, er hatte gut getrunken und hatte mir angeboten bei ihm zu übernachten, da er wusste, dass auf meinen kleinen Ort kein Bus mehr fährt. Auch als er meinte, dass wir uns die Couch teilen müssten, da der Kater seines Mitbewohners sein Bett verunreinigt hätte, habe ich mir keine weiteren Gedanken gemacht. Ich war sogar eher noch ein wenig aufgedreht, da ich selbst ein wenig betrunken war und es das erste Mal war, dass ich tatsächlich bei ihm zu Hause schlafen würde, da wir sonst meistens bei gemeinsamen Freunden übernachtet hatten. Während der Bahnfahrt wurde ich langsam ein wenig müde und schmusebedürftig, lehnte mich also an ihn an und nickte ein. Als wir bei ihm ankamen war zunächst alles normal. Wir machten uns bettfertig und stellten zu unserem Schrecken fest, dass die Katze eine der zwei Decken im Wohnzimmer auch noch ruiniert hatte. Da wir jetzt sowieso näher zusammenrücken mussten, fragte ich, ob er mich in den Arm nehmen könnte, da ich mich zu der Zeit manchmal ein bisschen einsam und verloren fühlte. Nach kurzer Zeit begann seine Hand jedoch nach oben zu meinen Brüsten zu wandern und sie zu betatschen. woraufhin ich versuchte sie unauffällig festzuhalten und an mich zu ziehen, in der Hoffnung ihn nicht vor den Kopf zu stoßen. Das schien er jedoch nur als weiteren Ansporn zu empfinden. Als seine Hand dann nicht mehr nur über, sondern auch unter mein Shirt wanderte wurde ich langsam panisch und verfiel in eine Schockstarre. Ich atmete flach und versuchte mich nicht zu bewegen, in der Hoffnung, dass er einfach aufhören wurde, aber als ich seine Latte an meinem Hintern fühlte und seine Hände sich Richtung meines Hosenbunds bewegten, löste sich die Starre dann doch zu Gunsten meines Fluchtinstinkts. Ich entschuldigte mich, dass ich ins Bad müsste und schloss mich darin ein. Nachdem ich eine Weile panisch auf dem Boden gesessen und geweint hatte, riss ich mich zusammen und überlegte, was ich nun tun sollte. Ich konnte nicht nach Hause, sein Stadtteil war nachts eher gefährlich und ich war sowieso schon panisch und verstört. Ich wartete also notgedrungen bis er eingeschlafen war und rollte mich möglichst weit entfernt von ihm, ohne Decke, auf der Couch zusammen und wartete immer noch zitternd darauf, dass die erste Bahn fahren würde. Sobald der Zeitpunkt gekommen war flüchtete ich.
Die Zeit danach war schwierig, da diese Erfahrung meine Bindungsängste massiv verstärkt hatte. Ich sprach mit niemanden darüber, redete mir selbst ein, dass ich mich nicht so anstellen sollte, dass es ja nicht so schlimm gewesen wäre, dass er mich schon nicht vergewaltigt hätte. Vielleicht mag das auch in gewissem Maß stimmen. Fakt ist, dass ich mir vermutlich einen ebenso großen Schaden selbst zugefügt habe mit meiner Selbstbeschuldigung, wie er mit seinem Handeln. Ich rechtfertigte über ein Jahr sein Verhalten in meinem Kopf, machte mich selbst verantwortlich, suchte nach Momenten, wo ich falsche Zeichen gesendet haben könnte, schob die Schuld von mir zum Alkohol und wieder zurück.
Meine Einstellung dazu änderte sich erst, als ich nach einer Party bei einem anderen langjährigen Freund übernachten wollte und ich auf die Frage, ob wir uns das Bett nicht einfach teilen könnten, weil er zu faul war die Couch noch auszuziehen, mit einer Panikattacke reagierte. Die ganze Geschichte sprudelte aus mir heraus und erst im Gespräch mit ihm begann ich zu begreifen, dass jeder noch so kleine Übergriff eben genau das ist was er ist und ich ihn weder dazu verleitet hatte, noch der Alkohol das entschuldigt, was er getan hatte. Dennoch konnte ich mich im Anschluss nicht dazu durchringen, mit meiner Erfahrung an die Öffentlichkeit bzw. in die örtliche Szene zu gehen. Selbst bei einem offenen Antifa-Treffen zum Thema sexualisierte Gewalt brachte ich es nicht fertig, da er kurz vor meiner Wortmeldung zur Gruppe stieß und ich unheimliche Angst hatte, dass er mich als Lügnerin darstellen und ich somit meine Freunde dort verlieren würde, da er die Gruppe mitbegründet hat und sie sich alle schon jahrelang kannten. Ich wollte sie alle nicht verlieren und möchte dies nach wie vor nicht. Ich wünsche mir, dass vielleicht andere Personen, denen es ähnlich geht wie mir, nicht denselben Fehler machen wie ich. Lasst euch nicht isolieren, isoliert euch auch selbst nicht. Sucht euch Freunde und bemüht euch, wenn ihr euch dazu psychisch in der Lage seht, um eine zeitnahe Aufarbeitung. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr spielt man die Situation vor sich selbst herunter und desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit den Täter zu konfrontieren. Aber wenn wir sie nicht konfrontieren, wird es nie enden und dann haben sie gewonnen!