In meinem ersten Artikel habe ich schon angesetzt zu erklären, was Vergewaltigungsmythen sind und wie Victim Blaming funktioniert. In diesem Artikel will ich genauer darauf eingehen, wie verbreitet sexualisierte Gewalt in Deutschland ist und wie Vergewaltigungsmythen dazu beitragen, dass das Problem in der öffentlichen Diskussion, aber auch in konkreten Fällen heruntergespielt wird (siehe hierzu z.B. Bohner, 1998; Lonsway & Fitzgerald, 1994). Es geht mir vor allem darum mit dieser Reihe und diesem Artikel fundiertes Hintergrundwissen zur Verfügung zu stellen und zu erklären, warum es unbedingt notwendig ist sich mit Menschen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, zu solidarisieren.
Gut jeder zehnten Frau in Deutschland ist im Erwachsenenalter sexualisierte Gewalt widerfahren (Müller & Schröttle, 2004, S. 88). Die Täter sind zu 99% Männer (Müller & Schröttle, 2004, S. 79). Man könnte sagen: Täter sind nur Männer. Trotzdem drehen sich Debatten im Nachgang von Vergewaltigungen auffallend häufig darum, dass es eigentlich „kein richtiger Übergriff“ war und dass Frauen auch sexualisierte Gewalt ausüben und wir mal bitte ganz dringend erstmal darüber reden müssen. Es sei denn, natürlich, der Täter war kein weißer Deutscher oder er wird nicht so wahrgenommen: Dann werden rassistische Bilder in Stellung gebracht, um zu erklären, warum in Kartoffeldeutschland eigentlich alles in Ordnung wäre, wenn nicht „die Anderen“ Grapscher und Vergewaltiger wären.
Was alle denken und wer es wirklich ist
Vergewaltigungsmythen sind, wie gesagt, so etwas wie eine Laien-Einschätzung dessen, wie sexualisierte Gewalt „so ist“. Dazu zählt zum Beispiel die Annahme, dass Täter „psychisch Kranke“ und/oder „Kriminelle“ sind, die Frauen nachts im Park überfallen (Bohner, 1998; Temkin & Krahé, 2008). Eine Variante davon wäre die Annahme, dass Vergewaltiger nur „die Ausländer“ sind. Darin steckt der Gedanke, dass Täter irgendwie „nicht normal“, nicht „wie wir“ und „die Ausnahme“ und vor allem „Unbekannte“ sind. Fremde Verrückte eben, die die Betroffenen vorher nicht kannten.
Besonders deutlich werden die problematischen Auswirkungen von Vergewaltigungsmythen, wenn wir uns vor Augen führen, dass mit Abstand die meisten sexualisierten Gewalttaten von Personen aus dem Umfeld der Betroffenen ausgehen (Müller & Schröttle, 2004; Vereinte Nationen, 2010) und eben nicht vom verrückten Fremden. Eine Studie fand in Bezug auf Deutschland heraus, dass knapp der Hälfte der Betroffenen durch einen (Ex-)Partner sexualisierte Gewalt widerfahren war. 20% nannten Nachbarn, Bekannte und Freunde als Täter, 12% nannten Täter aus dem Arbeits-, Ausbildungs- oder Schulkontext. Lediglich 15% nannten eine komplett unbekannte Person und 22.3% eine flüchtig bekannte Person als Täter (Müller & Schröttle, 2004, S. 78. Bei dieser Studie waren Mehrfachnennungen möglich, d.h. die Gesamtsumme der Antworten ergibt über 100%). Es ist eben nicht der unbekannte Verrückte, der die Taten begeht, sondern mit Vorsprung eine Person aus dem Umfeld der Betroffenen. Wie gesagt, jeder zehnten Frau im Erwachsenenalter ist solche Gewalt widerfahren. Es handelt sich also um ein massives Problem, was durch Erzählungen darüber, warum es „““eigentlich“““ keine sexualisierte Gewalt war, verschleiert wird.
Der nette Peter von nebenan
Diese Idee, dass es immer nur die fremden Verrückten sind, ermöglicht es uns, in konkreten Fällen und auch kollektiv, einen Großteil von sexualisierter Gewalt zu verdrängen und als „keine wirkliche Vergewaltigung“ zu verharmlosen. Ganz einfach, weil es eben „nicht danach aussieht“, wenn der Täter nicht sexbesessen aus dem Gebüsch hüpft, sondern wenn er eben der nette Peter ist, mit dem der_die Betroffene doch sechs Jahre zusammen war. Das zeigt sich auch wissenschaftlich ganz konkret daran, dass Vergewaltigungen, die durch den Betroffenen nahestehende Personen begangen werden, von Dritten und Betroffenen selbst als nicht so schlimm, schlechter Sex oder als ein Missverständnis bewertet werden (Hockett, Smith, Klausing, & Saucier, 2016; Wilson & Miller, 2016).
Von dieser Art von Annahmen über sexualisierte Gewalt gibt es noch einige weitere. Das kann die konkrete Tat betreffen, wie zum Beispiel im Falle der Annahme, dass es nur dann eine Vergewaltigung gewesen sein kann, wenn körperliche Gewalt angewendet wurde (Dieser Mythos bildete bis vor Kurzem noch die Grundlage der geltenden juristischen Definition dafür, was eine Vergewaltigung eigentlich ist). Es gibt aber auch Vergewaltigungsmythen, die vor allem einen frauenfeindlichen Anstrich haben, wie zum Beispiel die Annahme, dass das eigentliche Problem bei sexualisierter Gewalt nicht die geringe Anzeigen- und Verurteilungsrate, sondern vor allem die Falschbeschuldigungen durch hysterische, rachsüchtige Weiber seien (Was nicht stimmt, siehe zum Beispiel Müller & Schröttle, 2004; Seith, Lovett, & Kelly, 2009). Der zu kurze Rock und dass Frauen sich gerne zieren, wenn es um Sex geht, dann aber doch wollen, fällt in dieselbe Kategorie.
Wie sehr Menschen solchen Ideen über Vergewaltigungen anhängen, ist natürlich unterschiedlich. Insgesamt sind sie gesellschaftlich aber weit verbreitet, finden sich in Medienberichten und auch im Justizsystem wieder (siehe z.B. Bohner, Eyssel, Pina, & Siebler, 2009; Gerger, Kley, Bohner, & Siebler, 2007; van der Bruggen & Grubb, 2014). Warum das so ist und wieso auch Frauen Vergewaltigungsmythen zustimmen, erkläre ich im nächsten Artikel (der hoffentlich weniger lange auf sich warten lässt).
Quellen
Bohner, G. (1998). Vergewaltigungsmythen: sozialpsychologische Untersuchungen über täterentlastende und opferfeindliche Überzeugungen im Bereich sexueller Gewalt. Landau: Empirische Pädag. e.V.
Bohner, G., Eyssel, F., Pina, A., & Siebler, F. (2009). Rape myth acceptance: Cognitive, affective, and behavioural effects of beliefs that blame the victim and exonerate the perpetrator. In Brown, Jennifer M (Hrsg.), Rape: Challenging contemporary thinking (S. 17–45). Cullompton: Willan Publishing.
Gerger, H., Kley, H., Bohner, G., & Siebler, F. (2007). The acceptance of modern myths about sexual aggression scale: development and validation in German and English. Aggressive Behavior, 33(5), 422–440. https://doi.org/10.1002/ab.20195
Hockett, J. M., Smith, S. J., Klausing, C. D., & Saucier, D. A. (2016). Rape Myth Consistency and Gender Differences in Perceiving Rape Victims: A Meta-Analysis. Violence Against Women, 22(2), 139–167. https://doi.org/10.1177/1077801215607359
Lonsway, K. A., & Fitzgerald, L. F. (1994). RAPE MYTHS. In Review. Psychology of Women Quarterly, 18(2), 133–164. https://doi.org/10.1111/j.1471-6402.1994.tb00448.x
Müller, U., & Schröttle, M. (2004). Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Zusammenfassung zentraler Studienergebnisse. BMFSFJ.
Seith, C., Lovett, J., & Kelly, L. (2009). Unterschiedliche Systeme, ähnliche Resultate? Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern Länderbericht Deutschland.
Temkin, J., & Krahé, B. (2008). Sexual assault and the justice gap: a question of attitude. Oxford ; Portland, Or: Hart.
van der Bruggen, M., & Grubb, A. (2014). A review of the literature relating to rape victim blaming: An analysis of the impact of observer and victim characteristics on attribution of blame in rape cases. Aggression and Violent Behavior, 19(5), 523–531. https://doi.org/10.1016/j.avb.2014.07.008
Vereinte Nationen (Hrsg.). (2010). The world’s women 2010: trends and statistics. New York, NY: United Nations.
Wilson, L. C., & Miller, K. E. (2016). Meta-Analysis of the Prevalence of Unacknowledged Rape. Trauma, Violence, & Abuse, 17(2), 149–159. https://doi.org/10.1177/1524838015576391