Stress, Scham und Scheißjobs – Soll das alles sein?

Ein Bericht von tik

Wenn ich – so wie im Moment – an einem der PC-Arbeitsplätze der Uni (HU) sitze, dann fühle ich mich immer ein bisschen wie ein Fremdkörper, irgendwie fehl am Platz. Seit 2013 habe ich versucht, einen Studienplatz zu bekommen. Ich bin mir nicht genau sicher, warum ich glaubte, mit meinem Realschulabschluss + Ausbildung einen Hochschulzugang zu bekommen. Vielleicht habe ich mir dieses Märchen der Bildungschance selbst lange vorgespielt, vielleicht habe ich bei Sprechstunden, Bewerbungen, Gutachter_innengespräche usw. nicht so richtig verstanden, um was es geht, was die Unis von mir wollen – immer hat irgendwas gefehlt, oder irgendwas nicht gepasst – es war echt sehr sehr strange.

Ich habe nach meinem Realschulabschluss eine Ausbildung (Bürokommunikation) begonnen und drei Jahre später abgeschlossen. So fing ich mit 18 an, zu arbeiten. Erst in dem Betrieb, wo ich gelernt hatte, die hatten aber nach einem Jahr kein Geld mehr. Die Arbeitsbedingungen in einem Lager einer Automobil-Zuliefererfirma auf der Schwäbischen Alb waren aber sowieso nicht auszuhalten. Schikanen, Erpressung, Vereinzelung – das alles in einem Lager ohne Tageslichtfenster. Nach drei Jahren Ausbildung und Neonröhrenlicht plus einem weiteren Jahr in diesem schrecklichen Familienbetrieb: länger und ich wäre vor die Hunde gegangen. Jede/r, die schon mal in der tiefsten schwäbischen Provinz war, versteht, wie dort die Menschen ticken – Pegida in Dresden ist da noch recht „harmlos“ gegen die Landser von der Alb.

Danach musste ich mich von einer Zeitarbeitsfirma ausbeuten lassen. Zusammen mit vielen anderen jungen Menschen, alle nicht deutsch (das war das einzige Angenehme!), mussten wir Arbeit verrichten, die – wie soll es anders auch sein? – kein Mensch machen will. Ein großes Silo zur Betonherstellung mussten wir immer in Teams aus zwei Personen putzen. Mit einem Industriestaubsauger, großen Scheinwerfern, in Ganzkörperschutzanzügen und Gasmasken standen wir in einem stockdunklen Silo, der Staubsauger war so groß und schwer, wir hatten Mühe ihn zu zweit zu heben. Nach einem Tag brachen wir ab und weigerten uns, weiterzumachen. Es ging immer so weiter, über BOSCH, AEG, Siemens, OSRAM, Voith. Überall war ich für kurze Zeit (das Längste waren drei Monate) im Einsatz. Immer waren es Drecksjobs. Abwasserrohre reinigen, Unkraut jäten, Wände in einem Gebäude einreißen, Keller und Lager ausräumen.

Und über allem liegt die Scham

Meine damaligen Freund_innen waren zu diesem Zeitpunkt mit dem Abitur fertig und auf der Suche nach einem Studienplatz. Ich war orientierungslos, musste weiter Geld verdienen, meine Mutter buckelte zu diesem Zeitpunkt bereits 20 Jahre für eine Drogeriemarktkette. Mein Vater, zu dem ich keinen oder wenig Kontakt hatte, ist KfZ-Mechaniker. Irgendwie, ich brauchte auch was zum Angeben, war es für mich damals immer das Größte, zu sagen, dass er eine eigene Werkstatt besitzt. Obwohl ich nichts mit ihm zu tun hatte, gab mir das immer ein Gefühl, dazuzugehören. Die Freund_innen von mir, bzw. ihre Eltern, die wenigsten waren geschieden – ich kannte es nur so – lebten in Häusern, mit Garten und vielen Zimmern. Ich war neidisch. An Kindergeburtstagen war es mir unfassbar peinlich, andere zu mir nach Hause einzuladen, in eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung, wo ich mir zusammen mit meiner Schwester lange ein Zimmer teilte. Es waren nicht die einzigen Situationen, in denen ich mich sehr schämte.

Bei fast allen Ereignissen und Dingen, die um mich herum passierten, verfolgte mich die Scham. Die Scham darüber, dass man sich nichts leisten kann, dass die Eltern keine sind, weil es keinen Vater gibt – die Scham davor, dass andere das erkennen usw. Ich war 15 oder 16, die Schule hat eine Klassenfahrt nach England organisiert. Für meine Mutter war das schlicht nicht zu bezahlen, so konnte ich nicht mit. Ich hasste sie dafür, war erstmal untröstlich und sauer, verstand nicht warum und es kotzte mich an, dass wir immer aufs Geld achten mussten. Ich verstand nichts. Also saßen wir, drei andere und ich, im sogenannten „Stützunterricht“ und haben Mathe gelernt, zwei Wochen lang. Usw. usf.

Anschließend zog ich vom Ländlichen in ein etwas größeres Städtchen, nach Heidelberg. Meine Tante lebte dort lange und arbeitete als Erzieherin. Damals, als die GIs noch da waren. Ich verweigerte meinen Wehrdienst und begann ein FSJ in einer ambulanten Wohnbetreuung. Anschließend wurde ich übernommen und arbeitete als Heilerzieher (ungelernt) in einer der Wohngruppen für Menschen mit Schädelhirntraumata, später in der Individualhilfe, Sterbebegleitung usw. Es kam zu massiven Konflikten mit der Geschäftsführung, die ein paar Mitarbeiter_innen und mir vorwarf, dass wir uns gewerkschaftlich betätigten und dass dies in der Diakonie verboten sei, „immerhin sind vor Gott alle gleich“ usw. und so dumm. Ich war fertig, erkrankte erst an einer Depression, kurz darauf an Krebs. Zur gleichen Zeit hing ich immer mehr an der Uni in Heidelberg mit meinen Freund_innen rum. Ich habe es sehr genossen, in der Mensa zu essen, in der Bibliothek zu lesen, mit auf Demos zu gehen, kritische Lesungen, gute Gespräche usw.

Nach meiner Kündigung Ende 2012 fühlte ich mich frei. Zwar machte jetzt das Jobcenter Druck, dennoch konnte ich morgens schwimmen, mittags lesen, abends mit Freund_innen kiffen, saufen, feiern – und über Politik reden. Früher, während meiner Ausbildung waren wir irgendwie alle „Antifa“ – gegen Nazis sein, normal, – das war es aber auch, das war unser „politisch“ sein damals: Nazis jagen. Wir sind durch ganz Süddeutschland gefahren, um „Action“ zu machen. Doch erst in Heidelberg durch meine Freund_innen lernte ich mehr kennen – ich verstand zum ersten mal auch Politik. Ich tat mich schwer, aber begann Marx zu lesen, mit Leselektüre und anderen Hilfsmittelchen. Habe lange gebraucht, um überhaupt etwas zu verstehen. Heute lese ich viel, kann mir mein Leben gar nicht mehr anders vorstellen. Früher habe ich vielleicht ein Buch im Jahr gelesen, die Juice (HipHop-Magazin) und ab und an die Tageszeitung. Heute habe ich zig Abos und komm mit dem Lesen kaum hinterher. Die Lohnarbeit empfinde ich als riesengroße Zeitverschwendung. Auspuffteile und Luftfilter sortieren, lol. Die Arbeit mit und am Menschen, sah ich als etwas sehr Sinnvolles. Die Bedingungen als absolut schrecklich. Das System der Pflege als „Bevormundungssystem“ – bei der Diakonie verbunden mit diesem ständigen christlichen Bullshit: abartig.

Und jetzt?

Mittlerweile bin ich 34 Jahre alt und habe immer noch keinen Studienplatz. Habe nur Nebenjobs und beziehe Hartz-IV. Ich verliere, vor allem in diesem System, langsam aber sicher die Geduld, habe mich wieder beworben, habe wieder Gespräche geführt. War auf Treffen für ein Stipendium, habe mich sowohl über die Hans-Böckler-Stiftung, über die „Aktion Arbeiterkind“ als auch mit mehreren Gesprächen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung beworben. War wieder in Sprechstunden und habe versucht, irgendwo reinzukommen. Nichts.

Jetzt sprechen viele über die „Neue Klassenpolitik“ – über Klassen, über ein Thema, dass irgendwie aus den Köpfen der Menschen verschwand, oder wo behauptet wurde: „Klassen gibt es nicht“, und andere Märchen. Vielleicht hätte ich statt Bücher zu lesen, auf Demos zu gehen, Geflüchteten zu helfen, Abschiebungen zu verhindern, Drogen zu nehmen und Partys zu organisieren, tolle Menschen kennenzulernen und nach Berlin zu ziehen usw. lieber noch eine Ausbildung gemacht, hätte mein Abitur nachgeholt, hätte mich voll ins Zeug gelegt und mich „weitergebildet“ – um dann irgendwann Licht am Ende des „Arbeiter_innenklasse-Tunnels“ zu erblicken und einen Studienplatz zu bekommen? Das ganze Programm neoliberaler Selbstoptimierung durchgezogen anstatt eine Demo für Sinti und Roma zu organisieren oder durchs halbe Land zu tingeln um gegen Nazis zu demonstrieren? Viele meiner Freund_innen sind inzwischen mit dem Studium längst fertig, viele sind inzwischen in ähnlichen Situationen, natürlich nicht alle. Viele stehen mitten im Leben, oder wie meine Mutter immer sagte:  „Willst du nicht auch mal ‚was normales machen?'“. Doch, will ich, auch ich will verreisen, will teilhaben am schönen Leben.

Ich habe mich jetzt für eine Ausbildung zum Erzieher beworben, vielleicht geht es dann weiter, irgendwie. Warum kann ein Mensch mit Berufserfahrung nicht einfach studieren? Gremliza sagte mal in einem Interview, dass er am liebsten gemütlich mit einem Buch, einem Glas Rotwein ein bürgerliches Dasein fristet. Wer will das nicht? Wer will keine Sicherheit, oder Geld für schöne Dinge? Wer will nicht auch mal einfach wegfahren? Oder beim Zahnarzt mal direkt zu bezahlen, anstatt eine Ratenzahlung zu vereinbaren? Die schöne Altbauwohnung im angesagten Kiez ist nicht mal mehr für viele meiner Freund_innen zu erreichen. Viele haben ihren Master in der Tasche, aber keine Perspektive.

Das Schweigen der Privilegierten

So sitze ich in der Mensa, blicke auf eine große Mehrheit der Studierenden, bin neidisch – und es sind meine Beobachtungen und Vermutungen – dass viele dieser Menschen immer auf eine gewisse Art und Weise ruhig, gefasst sind – fast, auf eine unangenehme Art „freundlich-unsympathisch“ – weil zu glatt, zu geschliffen – irgendwie langweilig. Sie wirken wie programmiert, wie einstudiert ihre Bewegungen, ihre Abläufe – sie stehen unweigerlich auf der Gegenseite zu den ganzen kleinen Helfer_innen, die an der Uni in der Küche, Kantine, Speisesaal, Kasse usw. ihre Arbeit verrichten – die immer abgehetzt, gestresst, genervt, müde, depressiv und überarbeitet wirken. Es sind diese fast neofeudalen Verhältnisse, die sich auch an den Universitäten manifestieren. Die „Schwarzen“ putzen die Gänge, die gut situierten Bürgerkinder studieren, sie wissen um Ausbeutung, Entfremdung, Vereinzelung Bescheid, sie sind gebildet, sie erkennen ihr Privileg. Doch das alles ändert im Großen und Ganzen rein gar nichts. Es geht soweit, dass der ärmere Teil der Studierenden – das sind bestimmt einige – dann in solchen Jobs landen wie Foodora, Lieferando usw. ihnen nichts übrig bleibt, als selbst zu kleinen Helfer_innen zu werden. Und dieser Markt der „Billigarbeitskräfte“ ist enorm groß. Wer schon mal im Service war, weiß wie sich eine moderne „Dienerin“ fühlt. So kämpfen selbst um die billigsten Jobs, Menschen aller Klassen. Konkurrenz und Leistungsdruck wird so auf alle verteilt.

Eine „Neue Klassenpolitik“, muss auch anfangen, die Geschichten der Menschen zu verstehen, nicht nur zu erzählen. Es geht um ein gemeinsames Verständnis um ein Klassenbewusstsein. Dass ein Großteil der Menschen da draußen in erster Linie sich selbst sieht, sich selbst pusht, sich selbst weiterbringt – hängt am System, dieses muss mit allen Mitteln aufgebrochen werden. Der Kapitalismus macht uns fertig, die darin existierende bürgerliche Gesellschaft greift immer und immer mehr auf Hilfskräfte zurück, um sich ihren Alltag zu erleichtern. Fast immer sind es Migrant_innen, die irgendwo – meist als Nummer, ohne Namen und Geschichte, irgendwo in diesem „Dienstleistungssektor“ vor sich hin krepieren.

Es wird Zeit, diese Geschichten zu erzählen und Zugänge zu schaffen. Ein besseres Leben für alle ist möglich, wenn wir nur anfangen uns gegenseitig zu verstehen. Leistungsdruck vor einer Klausur ist schlimm. Eine Miete, die eine alleinerziehende Mutter nicht bezahlen kann, eine Katastrophe. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es schon bei einfachen Beispielen schwer ist, so etwas nachzuvollziehen. Vielleicht sehe ich auch einiges falsch, vielleicht bin ich auch sehr gefrustet. Vielleicht erzählen wir uns gegenseitig mehr voneinander, anstatt immer mehr auf Abstand zu gehen. Vielleicht sind das erste Schritte in eine „Neue Klassenpolitik“.

2 Comments

  • Antworten März 25, 2018

    Noah

    Ich kann viele parallelen zu meiner Geschichte erkennen. Ich habe als junger Mensch gelernt Probleme zu lösen, aus dem Bauch, und so trieb mich meine Arbeitsverweigerung irgendwann in eine Situation wo ich mit einer billigen Miete, Containeren und Trampen begann die Welt zu erleben. Wo die bürgeliche Gesellschaft mich nicht empfängt gehe ich auch keinen Schritt darauf zu. Ich schlafe dann lieber unter einer Brücke. Das macht mir Spass. Da hab ich Glück, dass mir das liegt.
    Einzig alleine fühle ich mich oft hier, in der Zeitlosigkeit, der Unregelmäßigkeit. Alle rennen ihren beruflichen Wünschen nach oder sind gezwungen ihre gesamte Zeit in Betreuungspflichten zu verbraten.

    Irgendwann, wenn ich fertig bin mit den 100 Büchern die ich noch lesen will werde ich vielleicht einen Einblick in die Kunst des (über-)lebens in diesem Dschungel haben. Dann möchte ich meine Erfahrungen weitergeben, meine Fähigkeiten anderen beibringen, Motivation und Begeisterung erwecken, in den jungen Menschen die wie ich einmal auf der Suche waren. Wenn ich dafür ein Dach über dem Kopf und jeden Tag ne suppe bekomme, dann reicht mir das.
    Blöd nur, dass meine Hippie-Träume keinen Platz haben, in dieser Welt.

    Wenigstens schäme ich mich nicht. Es stresst auch nur dann, wenn ich zum Arzt muss und keine Versicherung vorweisen kann. Das nehme ich gerne in Kauf. Ich hoffe, dass du, liebe*r Autor*in, das gute Leben bekommst, das du dir wünscht.

  • Antworten März 27, 2018

    Beschwerendschwebend

    Danke für diesen ungewöhnlichen Standpunkt! Da hat man echt mal was neues gelernt!

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