Über die gesellschaftliche Naturkatastrophe und Krisensozialismus

»Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« (Walter Benjamin)

Am 12.3.2020 meldete der Experte für Virologie, der in den letzten Wochen wider Willen zum einflussreichsten deutschen Influencer avanciert ist, leise Zweifel an dem an, was er da vermittels des Internets und Radios tat. Gestartet seien sie „…als wissenschaftlicher Podcast. Wir werden hier erschreckend politisch inzwischen.“ Tatsächlich hatte sich Christian Drosten in den letzten Folgen des Podcasts immer wieder dazu gedrängt gefühlt, sich zu Themen zu äußern, die außerhalb seiner Expertise liegen. Wenn er z.B. am Tag zuvor noch Schulschließungen für ein nicht probates Mittel hielt, um das Virus einzudämmen, und dann am 12.03 in Folge 12 des Podcast seine Meinung korrigierte, so tat er dies aus Überlegungen, die sich schwerlich als rein medizinische ausweisen lassen: „Wir wollen alle, dass sich die Infektionswelle abflacht und in die Länge zieht. Wir wollen andererseits aber die Arbeitskraft im Land nicht schädigen. Das ist hier der Kompromiss.“

Drostens Erschrecken hat seinen Grund in einer falschen Selbstwahrnehmung der Naturwissenschaft im Allgemeinen und der angewandten Naturwissenschaft Medizin im Besonderen. Naturwissenschaft beschäftigt sich mit Natur. Natur ist aber dialektisch. Was Natur sei, ist schwerlich zu begreifen, stellt man ihr nicht ihr Gegenteil – die Gesellschaft – gegenüber. Natur ist demnach das, was nicht gesellschaftlich ist. Alles was nicht vermittels der menschlichen Arbeit geformt wurde, ist Natur. Allein bleibt der Begriff der Natur so immer auf die Gesellschaft verwiesen. Selbst ein völlig isolierter Nationalpark ist nur Natur, weil ein politisches Gremium die Entscheidung getroffen hat, einen Teil der Erde nicht zu beackern. Eine Natur an sich ist nicht zu haben. Natur ist immer für uns. Dies wird in der Geschichte nirgends deutlicher als in der Gegenwart. Wenn die Menschen davon sprechen, ein Wochenende in der Natur zu verbringen, so fahren sie mit dem in China hoch-industriell gefertigten Fahrrad in Agrarsteppen, in denen weniger Vögel leben als in den Städten, aus denen sie zu fliehen gedenken. Kein Stück Erde, das nicht unter die Zwecke des selbst-verwertenden Wertes subsumiert wird. Für die Naturwissenschaft mag dieser Schein ein notwendiger sein. Die Natur lässt sich nur als äußere beschreiben. Ideologisch wird die Perspektive aber in angewandten Wissenschaften. Für die Ökonomie hat Marx dies als Fetisch beschrieben. Ein gesellschaftliches Verhältnis (der Wert) wird als natürlich wahrgenommen. Analog ließe sich von einem medizinischen Fetisch sprechen, wenn sie ihren gesellschaftlichen Charakter vergisst.

Die Einsicht in die Vermitteltheit des Unmittelbaren, in die gesellschaftliche Dimension des Natürlichen und somit in den Begriff der Natur selbst hat Konsequenzen auch für den Begriff der Naturkatastrophe. Als eine solche hatte Drosten die Corona Pandemie in Folge 11 bezeichnet. Tatsächlich ist die Pandemie nichts weniger als das. Allein darf man im Angesicht des bis hierher Entwickelten Naturkatastrophen nicht als etwas betrachten, das von außen auf uns hereinbricht, ohne selbst ein gesellschaftliches Moment zu bergen. Es macht einen Unterschied, ob eine Hütte oder ein Palast von einem Sturm ergriffen wird. Die Opfer einer Naturkatastrophe sind meist diejenigen, die schon zuvor Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Auch in der Corona Katastrophe werden die Armen stärker getroffen als die Reichen. Und zwar sowohl individuell als auch transnational. Der Wohnungslose findet kaum noch Unterschlupf, die Straßenzeitung wird er nicht los und auch bei den Tafeln findet er keine Verpflegung mehr. Transnational wird Italien im Großen und Ganzen allein gelassen und die Auswirkungen einer Epidemie auf dem afrikanischen Kontinent wären fatal.

Ebenso wenig wie von einer Natur an sich können wir von einer Gesellschaft an sich sprechen. Gesellschaften treten nur im Plural auf und sind deshalb in doppelter Hinsicht spezifisch. Erstens weil sie auf Natur als ihr anderes verweisen und somit nie autark sind. Selbst die industriell hochentwickelten Gesellschaften fußen auf Naturstoffen. Die seltenen Erden in unseren Smartphones müssen zunächst geborgen werden, bevor sie für den Zweck der Kommunikation nutzbar gemacht werden können. Mögen die modernen Milchkühe noch so überzüchtet sein, so bleiben sie doch immer auch Natur, und der menschliche Körper ist hiervon nicht ausgenommen. Die Gesellschaften sind aber noch in einem zweiten Sinne spezifische. Sie sind historisch bestimmte. Das Römische Reich war eine andere Form der Gesellschaft als der mittelalterliche Feudalismus. Welche Form der „Stoffwechsel mit der Natur“, also die Arbeit annimmt, auf welche Weise Natur und Gesellschaft vermittelt sind, ist historisch bedingt.

Die Form der Gesellschaft, mit der wir es in dieser Krise zu tun haben, ist die durch das Kapital vermittelte Gesellschaft. Anders als in anderen Epochen ist hier die durch den Markt vermittelte Akkumulation von Mehrwert und somit von Mehrarbeit die Leitlinie des gesellschaftlichen Handelns: Wachstum. Wann also ein Lockdown verkündet wird, ob beim Auftreten des ersten Falls von COVID-19 oder erst nachdem sich das Virus bereits etwas ausgebreitet hat, ist abhängig von der eingangs erwähnten Abwägung, die Drosten in seinem Podcast beschreibt. „Wir wollen andererseits aber die Arbeitskraft im Land nicht schädigen.“ Es ist also der ökonomische Imperativ des spezifischen Produktionsverhältnisses des Kapitalismus, der die Zwecksetzung in der Krise bedingt. Es schleicht sich hier ein fremder Zweck ein, der auch unter medizinischen Normalbedingungen dafür sorgt, dass die stetige Erweiterung der menschlichen Kapazitäten der Mehrzahl der Menschen nicht zur Verfügung stehen. „Bereinigt um die Produktionsverhältnisse, auf der Ebene der Produktivkräfte selbst, bleibt alles sehr einfach: Weniger lebendige Arbeit ist nötig, wo immer lebendige Arbeit im Laufe der Zeit Apparate schafft, welche die Arbeit erleichtern, wirkungsvoller machen, abkürzen.“ Schreibt Dietmar Dath in seinem Essay Maschinenwinter. In der Corona Krise hieße das: die globale menschliche Produktivkraft ließe sich auf einen gemeinsamen Zweck, nämlich die Pflege der Kranken und die Bekämpfung des Virus ausrichten. Allein so etwas wie von Produktionsverhältnissen bereinigte Produktivkräfte gibt es nicht. Und der Zweck des bestehenden Produktionsverhältnisses ist die Akkumulation von Mehrwert.

Die Sache ist jedoch in mehrfacher Hinsicht vertrackter als sie zunächst scheint. Denn das Kapital ist nicht wie in manchen vulgären Vorstellungen ein monolithischer Block. Nach Marx ist es der selbstverwertende Wert, der von ihm in der Formel G-W-G‘ ausgedrückt wird. Der Begriff bezeichnet nicht die Klasse der Kapitalisten. Diese hat unterschiedliche Interessen oder ökonomisch ausgedrückt: die einzelnen Kapitalisten stehen in einem Konkurrenzverhältnis. Nur in dieser Konkurrenz kann sich der selbstverwertende Wert entwickeln. Jeder einzelne Kapitalist möchte möglichst viel lebendige Arbeit durch Maschinen ersetzen, gesamtgesellschaftlich sinkt so aber die Profitrate, da immer weniger wert-schöpfende Arbeit unter das Kapital subsumiert wird. Dies führt das Kapital in regelmäßigen Abständen in die Krise. Der „schwarzer Freitag“, die „Ölkrise“ oder zuletzt der Finanzcrash von 2008 markieren solche Momente. Und auch die jetzige ökonomische Krise wurde durch die Corona Pandemie nur ausgelöst: „Der Corona-Virus ist nur der Trigger, der ein labiles System zum Einsturz zu bringen droht.“ schreibt das lowerclassmag auf seiner Homepage. Immer dann, wenn das Kapital als Ganzes in eine Krise gerät, muss der Staat als ideeller ´Gesamtkapitalist´ (Engels) verstärkt auf den Plan treten, um auch gegen die Interessen der einzelnen Kapitalisten den Zweck der Akkumulation zu gewährleisten. So verändert sich die Akkumulationsweise des globalen Kapitalismus. Der Keynesianismus antwortet auf die Krise des frühen Liberalismus ebenso wie der Neoliberalismus auf die Krise des Keynesianismus. Über die ökonomischen Krisen der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts bemerkt Eric Hobsbawm in seinem Buch Das Zeitalter der Extreme: „Das Trauma der Weltwirtschaftskrise wurde noch von der Tatsache verstärkt, daß sich das einzige Land, das lautstark mit dem Kapitalismus gebrochen hatte, als immun gegen sie zu erweisen schien: die Sowjetunion. […] In der Sowjetunion gab es keine Arbeitslosigkeit. Solche Leistungen beeindruckten ausländische Beobachter aus allen ideologischen Ecken, darunter auch jenen kleinen, aber einflußreichen sozioökonomischen Touristenstrom, der in den Jahren 1930-35 ständig nach Moskau floß. […] Was war das Geheimnis des sowjetischen Systems? Konnte man irgend etwas von ihm lernen? Die Wörter „Plan“ und „Planung“ tauchten plötzlich wie ein Echo des russischen Fünfjahresplanes als große Schlagwörter der westlichen Politik auf.“ In der Krise wird also das Dogma der freien Marktkräfte, die alles zum Guten wenden, ausgehebelt. Der Staat hält sich nicht länger raus, er plant sogar. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Kriegssozialismus, ein Begriff aus dem ersten Weltkrieg, der bezeichnet, dass der Staat sein Ziel nicht mehr auf Prosperität, sondern auf den Sieg des Krieges legt und dafür auch das Mittel der zentralen Planung ergreift.

So ein Kriegs- oder Krisensozialismus deutet sich nun auch in der Corona Krise an. „In Italien läuft alles auf die Verstaatlichung der dauerkriselnden Fluglinie Alitalia hinaus. In Frankreich hat Finanzminister Bruno Le Maire jetzt angekündigt, Unternehmen notfalls ganz zu verstaatlichen.“ Meldet DW.com. Bezeichnend auch, dass Trumps Befehl an General Motors, nun Beatmungsgeräte zu produzieren mit einem Kriegswirtschaftsgesetz aus dem Koreakrieg gerechtfertigt wird. Auch die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der ganzen Welt lassen sich kaum unter den neoliberalen Dogmen des freien Marktes fassen. Aus Sicht der Akkumulation stellen Ausgangssperren und Beschränkungen einen Einbruch der Nachfrage dar. Die Leitlinie ist nicht mehr die unmittelbare Produktion von Mehrwert, sondern der Sieg im Kampf gegen das Virus. Diese Feststellung mag verwundern. Wurde doch weiter oben behauptet: „Es ist also der ökonomische Imperativ des spezifischen Produktionsverhältnisses des Kapitalismus, der die Zwecksetzung in der Krise ausmacht.“. Dies ist aber nur scheinbar ein Widerspruch. Im Krisensozialismus mögen zeitweilig die Zwecke der Herrschenden und der Beherrschten zusammenfallen. Dies gilt aber nur für die unmittelbare Bekämpfung der Pandemie. Ziel des Kapitals ist der Schutz von Menschenleben nur insofern, als die Mehrwertproduktion von ihrem totalen Aussterben bewahrt werden soll. Das sieht man auch daran, dass Politiker bereits mahnen, der Stillstand der Wirtschaft solle so beschränkt und kurzfristig wie möglich sein. Schon jetzt spricht Trump davon, dass er nach Ostern wieder zur Normalität zurückkehren möchte und dabei auch den Tod von Menschen in Kauf nimmt, selbst wenn diese Rückkehr zur Normalität wohl eine Wunschvorstellung bleiben wird.

Der Krisensozialismus birgt eine Reihe von Gefahren. Das Kurzarbeitergeld in Deutschland, das als sozialer Akt gefeiert wird, bedeutet de facto eine massive Lohnkürzung. Wer garantiert, dass es nicht sofort zurückgenommen wird, sobald sich die Lage ein wenig beruhigt hat? Der Klassenkampf von oben wird sich wie gewohnt fortsetzen, was sich auch an den Ideen der deutschen Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner ablesen lässt, die im Angesicht der mangelnden günstig auszubeutenden Arbeitskraft aus Polen nun Hartz IV-Empfänger und Flüchtlinge verpflichten möchte, auf den Feldern deutschen Spargel zu stechen. Selbst wenn diese Maßnahme gegenwärtig geboten wäre, weil es außer Spargel nichts mehr zu essen gäbe, wer garantiert, dass solche Maßnahmen wieder aufgehoben werden?

Die Maßnahmen der sogenannten sozialen Distanzierung treffen auf die atomisierte Masse des digitalen Kapitalismus. Die als soziale Monaden konstituierten Individuen vor ihren Netflix und Disney+ Accounts werden noch stärker in die Vereinzelung gedrängt. Kollektives Aufbegehren wird also noch weiter verunmöglicht. Wer garantiert, dass die Versammlungsfreiheit nicht auch nach der Krise eingeschränkt bleibt? Dabei geht es nicht nur um Staaten wie Ungarn. Nicht nur ohnehin nationalistische Autokraten wie Orban oder Erdogan werden schwerlich alle Maßnahmen wieder rückgängig machen. Ein Zurück kann es in der Geschichte nicht geben. Das heißt nicht, dass alle Maßnahmen aufrecht erhalten bleiben müssen. Der Normalzustand vor der Krise bleibt aber unerreichbar. Die deutsche Kanzlerin wird zwar von der Teilen der us-amerikanischen Presse als besonnene Krisenmanagerin, als ‚leader of the free world‘ gefeiert, ihre Rede an die Nation schloss dabei aber an nationalen Mythen wie den Wiederaufbau an, verschiebt die Solidarität ins Individuelle und appelliert an ein nationales Wirgefühl. Derweil regt sich in Südeuropa Kritik. Eurobonds werden aus deutschem Wirtschaftsinteresse heraus abgelehnt. Hilfe für Italien, das Zentrum der Pandemie in Europa, bleibt sehr beschränkt. Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare sagt in einem Interview mit der Zeit: „Doch die Italienerinnen und Italiener sind sehr enttäuscht von Europa. Warum gibt es jetzt keine europäische Politik, warum koordiniert die EU nicht die Verteilung der Masken oder Beatmungsgeräte? Die EU hat versagt, die EU ist in dieser Krise nicht da. Nicht einmal symbolisch, nicht logistisch und auch nicht politisch. In diesem konkreten Moment merken wir: Europa existiert nicht.“ Die globale Pandemie, die sich nur in einer gemeinsamen globalen Planung besiegen ließe, treibt den Prozess der Renationalisierung voran. Was den Flüchtlingen in den Lagern der EU der Türkei und Syrien widerfahren wird, wenn das Virus sie erreicht, ist ein Gedanke, den man sich kaum zu denken wagt. Und bleiben die EU-Grenzen auch nach der Krise abgeriegelt? Die Triage, also das Einteilen der Menschen in lebenswertes und unlebenswertes Leben, ist ein medizinisch-faschistoider Vorgang. Wer garantiert, dass dieses Prinzip in den Krankenhäusern nach der Krise fallengelassen wird? Billiger als das Gesundheitswesen auszubauen ist es allemal.

In der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno findet sich folgender Dialog:

A. Du willst kein Arzt werden?

B. Ärzte haben aus Profession so viel mit Sterbenden zu tun, das härtet ab. Bei der fortgeschrittenen Institutionalisierung vertritt zudem der Arzt dem Kranken gegenüber den Betrieb und seine Hierarchie. Oft steht er in Versuchung, wie der Sachwalter des Todes aufzutreten. Er wird zum Agenten des Großbetriebs gegen die Verbraucher. Wenn es sich dabei um Autos handelt, ist es nicht so schlimm, aber wenn das Gut, das man verwaltet, das Leben ist und die Verbraucher die Leidenden, ist es eine Situation, in die ich nicht gern geraten möchte. Der Beruf des Hausarztes war vielleicht harmloser, aber er ist im Verfall.

A. Du denkst also, es sollte gar keine Ärzte geben, oder die alten Quacksalber sollten wiederkommen?

B. Das habe ich nicht gesagt. Mir graut nur davor, selbst Arzt zu werden, ganz besonders etwa ein sogenannter Chefarzt mit Kommandogewalt über ein Massenhospital. Trotzdem halte ich es natürlich für besser, daß es Ärzte und Hospitäler gibt, als das man die Kranken verkommen läßt.

In Zeiten der Krise tritt der der Charakter des Arztes als Sachwalter des Todes, als Vertreter des Betriebs, ungeschminkt zu Tage. Doch auch in der Krise gilt, dass es besser ist, dass es Ärzte und Hospitäler gibt. Mehr von ihnen wären notwendig. Die Kommandogewalt über die Massenhospitäler in denen triagiert wird, verweist auf die Vermittlung von Kriegs- und Krisensozialismus wie sie oben geschildert wurde. An den Fronten der beiden Weltkriege ist so verfahren worden. Kein Zufall, dass es nun in Italien, China, den USA oder Deutschland die Armee ist, die bei der medizinischen Versorgung zur Hilfe gerufen wird. Die Aufgabe der Lebensrettung tritt gezwungenermaßen in den Hintergrund, und auch wenn diese weiter offizieller Hauptzweck der Krankenhäuser bleibt, wird die Aufgabe zu entscheiden, wen man nun sterben lässt, immer wichtiger für die Ärzte werden. Das ist kein Naturgesetz. Es verweist auf die oben geschilderte Dialektik von Natur und Gesellschaften. Richteten wir konsequent die Produktivkräfte der Welt auf den Ausbau von Hospitälern, der Herstellung von Beatmungsgeräten und -masken aus, selten hätte ein Arzt den Sachwalter des Todes zu spielen.

Das ist auch die Möglichkeit, die der Krisensozialismus bietet. Mag er auch wie dargelegt kein Sozialismus, ja nicht einmal der Weg dahin sein, so zeigt er doch eindrücklich, wie dumm es ist, dem Markt als Regulations- und Distributionsprinzip der Gesellschaft zu setzen. In Zeiten, in denen selbst ein neoliberaler Reformer wie Macron Lippenbekenntnisse äußert wie „diese Pandemie hat jetzt schon deutlich gemacht, dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen.“ sollte es für die globale Linke ein Leichtes sein zu sagen, dass dieses nicht nur für manche Güter und Dienstleitungen gilt, sondern für alle. In Zeiten, in denen ein Großteil der globalen kapitalistischen Produktion zum Erliegen kommt, dürfte es für Kommunisten leicht sein, dafür zu argumentieren, dass die Räder in einem Generalstreik anzuhalten, nicht sofort ins Armageddon führt. Die soziale Forderung, nun das Gesundheitswesen oder die Pharmaindustrie zu verstaatlichen, sollten sich gedanklich leicht weitertreiben lassen dahingehend, die gesamte globale Produktion nach den Bedürfnissen aller Menschen zu planen. Der Klimawandel wirkt plötzlich wie eine Lappalie, haben wir doch gelernt, dass sich die Wirtschaft über eine Pausentaste verfügt und daher auch nachhaltig formatiert werden kann. Das blau schimmernde Wasser in den Grachten Venedigs zeigt, wie schnell eine Verringerung der Produktion zur Revitalisierung der Lebensgrundlagen führen kann. Auch eine Vorform von Solidarität lässt sich erkennen, wenn massenhaft Initiativen gegründet werden, um sich im Alltag zu unterstützen.

Allein ist die Frage nach den Möglichkeiten, die der Krisensozialismus bietet, keine des Einsehens, keine des Besinnens, keine nach dem besseren Argument. Ob nach dem Krisensozialismus eine faschistische Diktatur, der Sozialismus oder einfach nur ein neues Akkumulationsregime des Kapitalismus die neoliberale Epoche ablöst, ist eine offene Frage, die nicht in der Diskussion, sondern in politischen Auseinandersetzungen zu entscheiden sein wird. Hierbei wird es entscheidend sein, ob es gelingt Formen der politischen Organisation zu finden, die auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen tragfähig sind.


Johannes Neitzke, 1985; M.A. Philosophie, Lehrer für Geschichte und Philosophie, promoviert zzt. zur Historizität der Wahrnehmung in Vermittlung zur Digitalisierung an der TU Berlin. Zuletzt von ihm erschienen ist der Beitrag „Walter Benjamins Umgang mit dem Ursprungsbegriff Hermann Cohens“ in Voigt, Tzanakis Papadakis, Loheit, Beahrens (Hg.) Material und Begriff, Arbeitsverfahren und theoretische Beziehungen Walter Benjamins.

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